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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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betrüblichen Schlussfolgerungen kamen, wenn sie über ihren gemeinsamen Lebensweg nachdachten; in jenen Minuten, in denen der Sicherheitsminister des Staates Israel einen weiteren erzürnten Anruf vom State Department erhielt und begriff, dass ihm das Wasser bis zu seiner von Kriegsnarben verwundeten Seele reichte …
    … Exakt in diesen Augenblicken kam das Wasser immer näher, mit der schäumenden Wucht eines Gebirgsbachs nach einem glutheißen Sommer, der den Schnee vom Vorjahr schmelzen ließ, und gleich würde es sich wie eine schmerzhafte Sturzflut in die zarten Seelen von Nachum, Raja, Schimon (Schimi) und Tehila (Tili) Gottlieb ergießen. Roni schritt noch auf der Straße aus, während ein altes Exemplar der Washington Post – jene berüchtigte Ausgabe – im Abendwind herumflatterte. Roni achtete nicht auf die Zeitung, doch vielleicht hörte er die Schreie Tili Gottliebs.
    »Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Raja entsetzt ihre Tochter und ihren Sohn, die wie ein Sturmwind zur Tür hereinbrachen. Tili öffnete ihren kleinen Mund, in dem die beiden unteren Milchschneidezähne fehlten, rang nach Luft. »Was ist passiert? Was ist denn passiert?«, wiederholte die Mutter. Jetzt hatte Tili Luft gefunden und stieß sie mit einem langen, heftigen Schluchzer aus. »Was ist passiert, Schimi? Was haben sie ihr getan?«
    Schimi antwortete: »Kondi hat sie gebissen.«
    »Was?! Wo?« Sie hob Tili hoch, wischte ihr die Tränen ab, beruhigte sie. »Wo, zeig’s mir, Liebling.« Tili deutete auf ihren Knöchel. Raja hob den Blick und begegnete den Augen ihres Mannes Nachum. Sie wiegte verzweifelt ihren Kopf von einer Seite auf die andere. Er gab ihr einen düsteren Blick zurück und wusste – das Wasser war da und lief über.
    »Das ist die Hündin von Otniel«, sagte er zu ihr, womit er in Wirklichkeit sagte, hör zu, es wird hier keinen staatlichen Untersuchungsausschuss geben, keine Entschuldigung, weder Arrest noch Strafe oder Erziehung von Haustieren, denn das ist der Hund des Sheriffs, und den Sheriff vom Hügel rührt man nicht an.
    Raja verband die Wunde. Tili verfiel in ein leises Wimmern und beruhigte sich langsam. Schimi fing an, in der Ecke des Raums mit Bauklötzchen zu spielen, doch er hatte Schwierigkeiten, nennenswerte Türme zu bauen, da der Fußboden schief und krumm war. Wenn man schon von Wasser spricht, das bis zur Seele reicht – geregnet hatte es seit Monaten nicht mehr, doch ein feines Rinnsal aus einem der Rohre floss hartnäckig in diese Ecke, und der PVC-Belag blähte sich, warf sich auf und wellte sich, überzog sich mit Buckeln, Bergen und Tälern. Vielleicht nett für ein Spiel mit der Eisenbahn, aber nicht für Bauklötze, und ein Sofa oder eine Stehlampe konnte man erst recht nicht aufstellen.
    »Sie muss eine Spritze kriegen«, sagte Raja zu Nachum, und was sie damit in Wirklichkeit zu ihm sagte, war, dieser Ort, bei allem Respekt, nicht genug, dass er jung, rau und rudimentär ist, nicht genug, dass wir uns als Neulinge auf der untersten Sprosse der Rangleiter befinden und, wenn wir vom Hund desjenigen gebissen werden, der ganz oben auf der Leiter sitzt, nicht berechtigt sind, uns zu beschweren, nicht genug, dass die Arbeit hart ist, die Fahrten lang sind und es wenig Menschen gibt – nicht einmal grundlegende Versorgungsdienste wie eine Poliklinik gibt es.
    Nachum gab keine Antwort. Was hätte er auch sagen können?
    »Ich will mit ihr in die Klinik fahren.«
    »Wo willst du zu einer solchen Zeit hinfahren?«, erwiderte er und blickte auf seine Uhr.
    »Ich habe keine Kraft mehr, Nachum.« Das war der Augenblick, in dem das Wasser seinen Weg fand und sich die Bahn zu Rajas Seele brach. »Ich kann nicht mehr. Gib mir eine Poliklinik. Gib mir eine Vermittlungsstelle.«
    Ihr Mann blickte seine Gefährtin und seine Tochter an. Seine Haare und sein Bart waren fein und dicht, aber immer noch ziemlich kurz. Sein Gesicht war schmal und lang wie sein Körper und seine Nase, auf der ein dünner Aluminiumrahmen mit den Brillengläsern thronte – eine Anpassung Rajas. Das Optikergeschäft, das er in Ma’aleh Chermesch zu etablieren versucht hatte, kam nicht auf die Beine. Er hatte Geduld, doch manchmal fragte er sich, wozu. Er machte eine Bewegung, die die Brille auf seinem Nasenrücken ohne Handberührung hinaufrutschen ließ, und sagte: »Gib mir Rabbiner. Gib mir eine tägliche Talmudseite zum Lernen. Gib mir drei Gebete mit zehn Leuten zum Minjan.«
    Tili lächelte schon wieder. Ihre

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