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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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sah seine Kindheitsfreunde, Jotam und Ofir, wie sie mit ihren Freundinnen dasaßen und sich an dem allgemeinen Gesang beteiligen. Er sah die Soldaten mit den schweren Lidern, die Freiwilligen mit ihrer glatten Haut und ihren blauen Augen.
    Er war im Kibbuz nicht mehr integriert. Die Jahre nach der Armee waren verhältnismäßig ruhig für ihn vergangen. Nachdem er einige Betriebszweige durchwandert hatte, war es ihm gelungen, sich endlich niederzulassen – bei den Bananen. Die Pflanzungen befanden sich am Ufer des Sees Genezareth, etwa vierzig Minuten Fahrzeit vom Kibbuz. Die Banantschiks, wie man sie nannte, verbrachten die Tage im Freien, am Ufer des großen Gewässers, unter den breiten Blättern, Mahlzeiten in Vierer- oder Sechsergruppen in der friedlichen Picknickecke, eine Kajakrunde im glatten See, wenn man Lust verspürte, sich auszulüften. Die Arbeit war nicht leicht – die Banane war eine anspruchsvolle Frucht mit kurzer Lebensdauer, was jeden Winter das Graben neuer Pflanzmulden erforderte, jeden Frühling die Rodung und Neuanlage der Plantage, endloses Jäten. Auch an diesem Morgen, am Tag vor dem Fest, als die Bananenfinger in ihren Blättern grünten, sich zu Büscheln zusammenscharten, und die Sonne vom Beginn des Sommers kündete, schwitzte er wie ein Ochse, während er einen Bewässerungsgraben mit der Hacke aushob. Aber Gabi schreckte vor harter Arbeit nicht zurück. Es war nicht die körperliche Anstrengung, an der er bei seinen vorigen Arbeiten gescheitert war – es waren der intensive Geruch der Tomaten auf dem Feld gewesen, die Allergie gegen den Fertigrasen im Werk und das überhebliche Verhalten Dalias, die für die Hauswirtschaft verantwortlich war. Auch aus der Armee schied er nicht wegen physischer Schwierigkeiten aus, sondern weil sich unverschämte Köche geweigert hatten, ihn zu verpflegen.
    Auf einmal, inmitten des festlichen Essens, begriff er, an wen er sich selbst erinnerte: an Ezra Dudi. Als sie Kinder waren, hatte Ezra Dudi, der zehn Jahre älter war als sie, immer allein im Speisesaal gesessen und stets das gleiche Essen verzehrt – Käse, Tomaten und eine Scheibe Brot. Und in der Basketballhalle hatte er immer allein auf den Korb geworfen, stundenlang. Und im Werk, wie sich Gabi erinnerte, bediente er den Gabelstapler mit schweigender Präzision, beförderte die vorgefertigten Rasenmatten in die Packhalle und die verpackten Pakete zu den Speditionslastwagen. Tag für Tag traf er allein im Speisesaal ein, in Arbeitskleidung, ein bisschen schmutzig im Gesicht, mit einem Bart, der immer wilder wucherte.
    Gabi sann darüber nach, dass er Ezra Dudi nie mehr als ein oder zwei Worte mit jemandem wechseln hatte sehen. Er lebte im Kibbuz mit seiner Mutter, die nach dem Krieg allein aus Europa gekommen war und nicht viel von ihrer Vergangenheit erzählte, aber von hier und dort – ihr Akzent, ihr hellhäutiges Erscheinungsbild, biographische Verweise der einen oder anderen Art – flickten die Leute eine bruchstückhafte Geschichte zusammen und schlossen, dass sie ursprünglich aus dem »Ostland«, den Ostgebieten stammte; vielleicht hatte sie ein paar Jahre im sibirischen Gulag verbracht, vielleicht war sie im Zuge des Vertriebenenabkommens befreit worden. So oder anders, im Kibbuz kam sie allein an, ohne alles, und zehn Jahre später gebar sie ihren Sohn, Ezra Dudi. Auch diesmal blieb der Großteil im Dunkeln: Sie wurde schwanger und entband einen dunkelhäutigen, niedlichen Säugling, daran bestand kein Zweifel, doch kein Mensch erfuhr jemals, wer der Vater war.
    Ezra Dudi war etwas merkwürdig. Sein Haar hatte nicht die richtige Länge, sein Bart war zu struppig. Seine Augen waren schwarz und groß mit einem sanften, wenngleich etwas unzugänglichen Ausdruck. Er sah ein bisschen aus wie Herzl, nur eben ein Kibbuznik und mit Lockenkopf. Seine Kleider passten irgendwie nicht für seinen großen Leib. Und auch sein Name, den keiner begriff – warum zwei Namen? Waren beides Vornamen? Und wenn einer von ihnen ein Familienname war, was für eine Art Name war das?
    An dem Blick, der ihn aus den Augen der kleineren Kinder im Kibbuz traf, erkannte Gabi, dass er selbst zu einer Art Ezra Dudi geworden war – mit seiner seltsamen Einsamkeit im Speisesaal, seinem Schweigen und dem müßigen Herumstreifen, und vielleicht sogar in seinem Aussehen, denn er gab sich selten mit Rasieren und Haareschneiden ab und blieb meistens in Arbeitskleidung und in Arbeitsschuhen. Kummer überfiel ihn.

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