Auf fremdem Land - Roman
reichte ihn Roni. »Gräser: die Stimme des Gesangs und der Lobpreisungen der Gräser, jedes einzelne Gras sagt ein Lied dem Herrn, gepriesen sei er, ohne Bitte und ohne jeden fremden Gedanken, und sie erwarten keinerlei Belohnung, wie schön und lieblich ist es, wenn man ihren Gesang hört, und es ist sehr gut, zwischen ihnen dem Herrn mit Ehrfurcht zu dienen. Kein schlechter Stoff, was?«
Die Dunkelheit war tief und lastend, so wie es die Dunkelheit abseits großer und erleuchteter Städte zu sein vermag – es gab keine Straßenbeleuchtung im Stützpunkt. Man konnte die Frösche quaken, die Heuschrecken zirpen und die Zikaden sägen hören, bisweilen wieherte ein Pferd in seinem Stall – »das ist Killer, von Jehu« –, und die Hunde bellten in ihrem Hof – »Beilin und Kondolisa, von Otniel« –, das Säuseln des Schilfrohrs im Wind, das Wimmern eines Babys – »vielleicht Nefesch, oder Schuv-El«. In den Nächten im allertiefsten Winter, so erzählte Nir, prasselte der Regen mit ohrenbetäubender Gewalt, und ein vehementer Wind drohte die Wohnwagen davonzuwehen und sie himmelwärts zu tragen. Und in den Sommernächten gab es Hochzeiten, haflas , endlose arabische Singfeste und Tanzfeiern im Nachbardorf, und dann plärrte die Musik und dröhnten die Darabukkas, die arabischen Trommeln, und die Sänger schwangen sich in einem Schwall von Oktaven hinauf bis mitten in den Himmel und ins Herz der Nacht, und manchmal setzten sie noch eine gehörige Portion an Feuerwerken drauf, die zwar primitiv anzuschauen waren, sich aber beeindruckend anhörten und die Kondi und Beilin, Killer und die kleinen Kinder so erschreckten, dass sie ihr eigenes langes Lärmkonzert veranstalteten und die Männer im Stützpunkt aus dem Bett jagten und mit hämmerndem Herzen die Waffen ziehen ließen.
Und es gab auch die Stille, vor allem in den kleinen, tiefen Stunden der Nacht. Wenn alle in ihren Wohnwagen versammelt waren, nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren, nach dem Abendessen und der Dusche; nachdem sie Nachrichten gesehen, gelesen, eine Arbeit beendet und Sachen erledigt hatten und unter den dünnen Wohnwagendecken mit den gewaltigen Sternen über ihnen schlafen gegangen waren. Während des Schlafs – monologisierte Nir nun mit aramäischen Zitaten – entfernt sich das Gehirn, läutert sich, macht Platz für Inspiration. Während des Schlafs steigt die Seele in eine spirituelle Welt auf, und der Schlaf ist wichtig für die Hingabe und den Glauben an den Herrn …
»Ich geh jetzt besser schlafen«, gähnte Roni. »Ich ticke noch nach amerikanischer Zeit, völlig verdreht.« Nir Rivlin wandte ihm überrascht den Blick zu, als hätte er vergessen, dass Roni da war. Er sah auf seine Uhr und sagte: »Fast Mitternacht, Ende der Schicht!« Aus seiner Hosentasche fischte er einen Zettel. »Schauen wir mal, wer mich ablöst … ha! Dein teurer Bruder! Gelobt sei der Herr. Komm, wir holen ihn aus seinen Träumen.«
Beim Wohnwagen sahen sie Gabi, der ins Dunkel hinaustrat. Mit holprigen Schritten trottete er in der durchdringenden Kälte den Hügel hinauf, in einer Hand eine Tasse Kaffee, die rasch ihre Wärme verlor. Der Wind trug schwache arabische Musikfetzen heran.
»Schalom, Zaddik!«, rief Nir.
»Schalom-schalom«, erwiderte Gabi mit müder Stimme. Sein Blick wanderte von Nir Rivlin zu seinem Bruder Roni, hielt überrascht ein paar Sekunden lang inne und kehrte dann zu Nir zurück. »Wie geht es Scha’ulit?«
»Gelobt sei der Herr.«
»Wann ist die Geburt?«
»Mit Hilfe des Herrn. Anfang neunter Monat.«
»Pfff …«, lächelte Gabi, »ich bin gespannt, ob es ein Adar- oder ein Nisankind wird.«
Die drei standen schweigend da. Es schien, als sei sogar Nir, der in den Stunden davor pausenlos geredet hatte, zu müde, um Worte zu finden. Schließlich sagte Gabi: » Jalla , geht schlafen, Männer, gute Nacht.«
Der Morgen
Als Gabi vom schacharit , dem Frühmorgengebet, zurückkehrte, schlief Roni noch im Wohnzimmer. Er legte das Gebetsriemensäckchen vorsichtig ab, doch das Klirren des Löffels im Glas weckte seinen Bruder.
»Guten Morgen«, sagte Gabi. »Tee?«
»Kaffee«, erwiderte die rissige Stimme seines Bruders. »Wow. Ich hab nicht gewusst, wo ich bin. Was hab ich tief geschlafen.«
»Der Schlaf ist süß und gut«, zitierte sein Bruder Rabbi Nachman. »Das macht die Stille.«
Roni zog eine Zigarette aus einer blauen Schachtel. Gabi warf einen vorsichtigen Blick darauf. »Soll ich das Fenster
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