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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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»Ich glaube, wir werden gleich rennen müssen, um einen Platz zum Unterstellen zu finden.« Er antwortete: »Keine Sorge, das geht gleich vorbei.« Den Punkt am Ende des Satzes setzte der gewaltigste und nächste Donnerschlag, den sie je gehört hatten, eine Sturzflut brach über sie herein, doch sie standen wie angewachsen auf der Stelle, umarmten sich hilflos, rochen nasse Pullover, verflogenes Parfüm, schwachen Alkohol, gewaschene Alleeblätter, bis Anna sagte: »Wir müssen irgendwas machen.« Gabi erwiderte: »Warum? Macht doch Spaß …«, und sie, geborgen in seinen Armen, biss sich auf die Lippen und gab lächelnd zu, dass das stimmte, es machte wirklich Spaß, doch er hörte es nicht, denn er fragte: »Was? Oder vielleicht nicht?«, worauf sie nur in seine Achselhöhle hineinnickte, was ihm genügte, um fröhlicher als seit Jahren zu sein.
    Schließlich beruhigte sich der Regen. Sie blickten sich um. Sie waren die Einzigen draußen, außer zwei Obdachlosen unter dem Vordach eines hohen Gebäudes und einem Mann, der in einem Auto rauchte, dessen Scheibenwischer laut quietschten. Sie kehrten zur Untergrundstation zurück, fuhren die zwei Haltestellen zu Gabis Hotel. Sie duschten, trockneten sich und schlüpften zusammen in ein Bett – Anna in der einzig sauberen Unterwäsche, die Gabi in seinem Koffer verblieben war, gedacht für den morgigen Tag, Gabi in der schmutzigen, aber wenigstens trockenen, von gestern – und schliefen ein, noch bevor sie es überhaupt schafften, daran zu denken, was jetzt passieren würde, denn sie waren todmüde und schwindlig, zu viel war den beiden in einer Nacht passiert, und sie hatten keine Energie mehr übrig.
    Doch am Morgen hatte sich die Energie, wie es ihre Natur ist, erneuert.
    Anna verließ Lothar, den deutschen Freiwilligen. Nach einigen Monaten am Sinai und noch ein paar Tagen im Kibbuz. Vielleicht hatte sie Angst, das Leben ihrer Mutter zu wiederholen, die einen Freiwilligen geheiratet hatte, der zwei Tage nach Annas viertem Geburtstag in seine Heimat zurückgekehrt war. Sie sah ihren Vater weiterhin alle zwei Jahre in den Ferien, und mit achtzehn beschloss sie, auf die Armee zu verzichten und für ein ganzes Jahr zu ihm nach Hartlepool zu reisen, einer Kleinstadt im abgelegenen Nordosten Englands. Es war ein alptraumhaftes, paralysierendes Jahr, in dem sie die ungeheure Distanz zwischen Genetik und Umgebung begriff. Hauptsächlich lernte sie, dass Liebe nicht alles besiegen und ganz sicher nicht zwei so völlig getrennte Welten überbrücken konnte – eine Kibbuznikin, das Kind zweier verängstigter russischer Juden, die im Alter von zehn Jahren in einen fremden, heißen Staat geworfen wurden und Tomaten zu züchten begannen, und eine Wiege im Nordosten Englands mit Eltern, die ihr Leben lang nie die Gegend verlassen hatten und mit siebzig immer noch die Abende im Pub mit Biertrinken und Unterhaltungen über Pferde verbrachten.
    »Sex kann alles überbrücken«, sagte Anna, »und ich bin der Beweis dafür. Aber Liebe? Woher denn.«
    Gabi dachte daran in jener ersten verzauberten Nacht und dachte in den kommenden Tagen und Jahren weiterhin viel darüber nach. Wie wurde bestimmt, ob man zusammenpasste, wie konnte man das wissen? Siegte die Liebe? In dieser Nacht dachten beide, dem sei so. Schließlich hatte Anna von ihren Eltern, die einander fremd waren, genau deswegen erzählt, weil es bei ihr und Gabi das Gegenteil war. Sie waren in der gleichen Umgebung aufgewachsen, aus dem gleichen Stoff gemacht, betrachteten die Welt durch das gleiche Prisma. Anna hatte von ihren unglücklichen Eltern erzählt, um Gabi damit unausgesprochen zu sagen: Wir sind nicht wie sie.
    Der Analyst
    Roni hatte das Gefühl, schon alles zu wissen, was man wissen musste: über Mädchen, über Trinker, über ehemalige Kibbuzgenossen, über die große Stadt. Und über Geschäfte oder zumindest über die Führung eines Geschäfts dieser Sorte. Der säuerliche Biergeruch, den er einmal mit Erregung geschnüffelt hatte, drehte ihm nach zwei Jahren den Magen um. Manchmal betrachtete er das Ganze von außen und fragte sich, weshalb Menschen in Bars gingen. Was fanden sie an dem Durcheinander aus Lärm, Alkohol und vielen Fremden in einem Raum? Die Abende auf der Terrasse mit süßlich gekräuseltem Rauch vor dem Sonnenuntergang über dem Meer – sie waren immer noch hübsch, immer noch »das gute Leben«, wie alle, die er einmal dorthin eingeladen hatte, ihm sagten; neu waren sie inzwischen

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