Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
Erdbeben nicht gespürt. Auch wenn sie ihn gesehen hätte, wäre sie sicher keine Gefahr für ihn gewesen. Sie erinnerte sich verschwommen daran, dass er verschwunden war, dass man ihn gesucht hatte. Aber zu der Zeit, vor allem am Sinai, war sie zu sehr auf sich konzentriert, um darauf zu achten, was um sie herum geschah. Sie war in einen deutschen Freiwilligen namens Lothar verliebt, verließ einige Monate die Schule wegen ihm, zog mit ihm herum, rauchte mit ihm, machte alles mit ihm, was eine Sechzehnjährige tun kann, die die große Welt außerhalb des Kibbuz entdeckt. Sie seien zwei Monate am Sinai gewesen, glaubte sie, und soweit sie sich erinnerte, war alles, was sie in diesen zwei Monaten gemacht hatte, Lothar zu lieben. Gabi lachte. Wie sehr er damals erschrocken war, als sie auftauchte, und es hatte sie überhaupt nicht interessiert. Man ist manchmal so auf sich selber konzentriert, sagte er zu ihr, dass man vergisst, dass man für andere nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Er erzählte von der Flucht. Der Golani-Uniform. Den verrückten Autostopps. Der Siedlung – Jahre hatte er nicht mehr daran gedacht, und nun stieg das Bild heute Abend ein zweites Mal in seinen Gedanken auf: die kleinen Häuser, die Familie, die ihn in dem überfüllten Kinderzimmer beherbergte. Die Felsen und Berge. Manchmal ist das so, sagte Anna mit träumerischem Blick, manchmal kommt etwas auf einmal aus dem Nichts daher, eine Erinnerung, ein Gedanke, und das hat einen Grund. Sie wandte den Blick von dem Gleis gegenüber, den breiten Stahlpfeilern, den Ratten, die sich zwischen den Gleisen tummelten, Gabi zu. Und dann lächelte sie und ließ ihre Augen auf ihm ruhen. Fast streckte er einen Finger nach dem niedlichen Grübchen in ihrer Wange aus.
    Er erzählte ihr von seinen Kurzschlüssen im Hirn, den Phasen des Zorns, dem Frieden am Sinai. Anna entschuldigte sich, dass sie die Ruhe zerstört hatte, und genau in dem Moment lief donnernd ein Zug auf dem Gleis ein, und er sagte: »Willst du ein bisschen rumfahren, eine Luftveränderung?«
    Sie stiegen ein und setzten sich auf die orangefarbenen Plastiksitze. Er fragte: »Und was ist mit Lothar, gibt’s ihn noch?« Sie runzelte einen Moment die Stirn und brach dann in Lachen aus. »Schwachkopf«, sagte sie, und er liebte die Art, wie sie ihn so nannte.
    Dann erzählte er von der Fahrt mit den drei Arabern in dem Peugeot, von der Dunkelheit, die er in dem Moment spürte, als er einstieg. Wie sie sein Hemd zerrissen und seinen Körper absuchten, ihm zwischen die Beine fassten und ihn mit ihrem stinkenden Atem anhauchten, bis sie begriffen, dass er nur ein Junge war, der sich als Soldat verkleidet hatte, dass er keine Waffe hatte, und ihn mit Fußtritten in den Straßengraben beförderten. Er war nur wenige Minuten mit ihnen zusammen gewesen, doch das haarsträubende Grauen, das Gefühl, jetzt sei es aus, so müsse sich einer fühlen, der gleich ermordet wird, war ihm immer noch gegenwärtig. Er erinnerte sich an jede Sekunde, erinnerte sich auch, dass er an Anna gedacht hatte und an den Blauäugigen aus der Siedlung. Und wie er betäubt in dem Graben gelegen war mit dem Leben, das sie ihm gelassen hatten, und in seinem Kopf der eine Satz, den er nicht vergessen konnte – ein sehendes Auge und ein hörendes Ohr, die macht beides der Herr, und als ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück –, da verkehrten sich die Dinge, und er begann, den seltsamen Tag, den er hinter sich hatte, nicht als Irrtum, sondern als Segen zu begreifen, als ein gutes Zeichen.
    Und dann die Nachrichten über den armen Soldaten, der nach ihm in den Peugeot eingestiegen war. Gabi weinte, als er es ihr erzählte, und sie weinte mit ihm, zwei beinahe Fremde in den Stunden der Morgendämmerung in einem leeren Zug, und sie legte eine Hand auf die seine und sagte, es ist nicht deine Schuld, sie hätten ihn auch ohne dich gefunden, sie haben einen Soldaten gesucht, um ihn umzubringen, und Gabi hielt ihre Hand und stieß unter Tränen hin und wieder aus: »Tut mir leid«, und: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, während sie beruhigend seine Hand streichelte.
    Sie stiegen an die Erdoberfläche und gingen schweigend nebeneinander her. Es begann zu regnen. Sie blieben stehen, schauten nach oben und dann wieder einander an, gingen weiter. Der Regen wurde stärker. Sie kicherte ein bisschen, und er gab ihr ein Lächeln zurück, sie schmiegte sich an ihn, und er hielt sie schützend. Sie sagte:

Weitere Kostenlose Bücher