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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Straße war leer, fast. Ein blauer Autobus fuhr in sicherer Entfernung und blinkte, um eine Haltestelle anzufahren.
    Doch er hielt nicht an der Haltestelle. Miki war auf einmal nicht mehr festgebunden. Irgendwie hatte er sich aus dem Gurt befreit, war flink aus dem Kinderwagen hinausgeklettert und rannte auf die Straße, in Richtung Enten.
    Als Gabi den Blick nach vorn richtete und Miki mitten auf der Straße sah, brüllte er: »Was machst du denn, du Dummkopf!« Dann rannte er Miki auf die Fahrbahn nach, der Bus näherte sich, und Gabi konnte in seinem Nacken schon die Druckluftventile zischen hören. Er war danach nicht in der Lage zu rekonstruieren, was genau er gemacht hatte, auch der Fahrer des Autobusses und die Passagiere konnten es nicht, die ganze Situation blieb merkwürdig unerklärlich, doch die Ergebnisanalyse erzählte folgende Geschichte: Der Busfahrer bremste, rammte jedoch den Kinderwagen, den Gabi aus irgendeinem Grund mit auf die Fahrbahn hinausgeschoben hatte, katapultierte ihn durch die Luft und schleuderte ihn auf Miki. Durch den Aufprall und den anschließenden Sturz auf den Asphalt brach sich der Junge die rechte Hand und zog sich eine tiefe Schürfwunde am Knie zu. Eine leichte Verletzung, sogar sehr leicht. Glück. Fast. Noch so ein »fast«, welches das Herz zwar mehr beutelt als ein standardmäßiges »fast«, das aller Voraussicht nach aber trotzdem nach nicht allzu langer Zeit in der Versenkung verschwinden wird, nachdem der Gips abgenommen worden ist und sich die Fäden aufgelöst haben. Währenddessen beendete Gabi die Episode, indem er sich über Miki beugte – wobei unklar ist, wie und wann er den Kinderwagen entfernt hatte –, ihn hysterisch anschrie und grobe Flüche ausstieß, die das Kind noch mehr als der Zusammenstoß, der Sturz und die Schmerzen erschreckten und ängstigten.
    Miki war der Überheld an jenem Nachmittag: auf der Fahrt ins Krankenhaus, beim Eingipsen, Nähen und bei der Infusion. Aber vielleicht war es auch kein Heldentum, sondern Schock. Denn er vergoss keine Träne und sprach kein Wort, verstand jedoch, was man zu ihm sagte, und führte alle Anweisungen brav aus. Gabi seinerseits saß gebeugt und zitternd neben ihm im Krankenwagen, war wütend auf Miki, wütend auf sich selbst, weil er auf Miki wütend war, und ihm war grauenhaft übel. Als Anna panisch aus Afula eintraf, war er nicht willens zu berichten, was passiert war, sondern überließ es Miki, denn auch auf sie war er wütend, und da er es Miki überließ, den Ablauf der Ereignisse zu erzählen, sah Anna in Gabi den ausschließlichen Verantwortlichen für die Verletzung ihres Sohnes, und vielleicht hatte sie recht damit.
    Zwei Tage später versöhnten sie sich. Anna kehrte nach Afula zurück, nachdem Gabi versichert hatte, dass er sich beruhigt habe und alles in Ordnung sei. Er brachte Miki wieder jeden Tag in den Kindergarten und holte ihn ab, sie gingen wieder zusammen spazieren und lachten auf dem Rückweg. Es gab einen Augenblick, an den erinnerte er sich, als sie in einer Eisdiele saßen und genussvoll Eis schleckten, da Gabi dachte, deswegen macht man Kinder. Was spielt es in einem solchen Moment für eine Rolle, dass Anna nicht da ist, ob ich das Studium beende oder was ich mit mir anfange? Das hier fange ich mit mir an. Das sind die Augenblicke, für die man lebt. Es war allerdings ein außergewöhnlicher Moment. Das Lachen wurde weniger. Miki blieb bei seinem Schweigen. Gabi biss die Zähne zusammen. Er genießt das, dachte er, er genießt es, die Wut aus mir herauszuholen, die Gewalttätigkeit. Er hat es gelernt, und jetzt spielt er damit, testet mich.
    Miki demütigte seinen Vater nun: Wenn er kam, um ihn vom Kindergarten abzuholen, wollte er nicht mitkommen, warf sich plärrend auf den Boden, wälzte sich im Sand. Jeden Morgen weigerte er sich, sich anzuziehen. Jeden Abend weigerte er sich zu essen. Es war ein harter Kampf, einer der härtesten in Gabis Leben, und Gabi war wild entschlossen, sich nicht hinreißen zu lassen, sondern Miki in Ruhe zu lassen, die Kränkungen und Demütigungen zu schlucken. Wenn Anna am Wochenende zurückkam, war Miki ein anderes Kind – gehorsam, rücksichtsvoll, fröhlich. Keine Spur von Miki, dem Verweigerer, der provozierte, Grenzen auslotete, absichtlich ärgerte, und daher neigte Anna absurderweise dazu, Gabis Geschichten nicht zu glauben.
    Als Miki auf die vier zuging, hatte er seine Fähigkeiten weiter ausgeformt – Ausdruck, List, Körperkraft. Er

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