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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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einer dicken Plastikhülle.
    »Du wirst ihn ersticken! Da kann keine Luft rein! Also wirklich, Anna!«
    Erinnerungen kommen im Allgemeinen mit einer Pointe daher, irgendeine Zeile, ein Gedanke oder ein Höhepunkt, die von Bedeutung sind, und für Gabi war das in diesem Fall der Gedanke, der sich in jenem Augenblick in seinem Hirn einnistete und wisperte: Gebe Gott, er würde ersticken. Gebe Gott, er würde sterben. Dann hätte sie nichts mehr zu sagen. Dann würde sie sich ihr ganzes Leben lang für ihre ganzen wilden Übertreibungen entschuldigen. Sie würde aufhören, wegen jedem Blödsinn zu streiten. Sie würde sich innerlich verzehren. Gabi sollte viele Male zu diesem Gedanken zurückkehren, dass er seinem Sohn den Tod gewünscht hatte, nur um seine Frau im Streit zu besiegen.
    Andere Erinnerungen: Mikis Schweigen. Urplötzlich, ohne ersichtlichen Grund. Irgendwas passte ihm nicht, etwas, das gesagt wurde, oder irgendeine Veränderung in der Anordnung des Spielzeugs in seinem Zimmer oder im Wohnzimmer. Es brachte Gabi aus der Fassung, und Miki lernte die Methode schnell und verwendete sie als Waffe, völlig zügel- und verantwortungslos, wie es die Art von Kindern ist. Gabi probierte es mit verschiedenen Taktiken, wiederholte die Frage, hob die Stimme, versuchte es mit logischen Erklärungen, Geschrei, Strafandrohungen, lockte ihn durch Belohnung, schwieg ebenfalls oder verließ das Zimmer – und mit jedem Versuch wuchs seine Ohnmacht, und mit dem Anwachsen der Ohnmacht verbarrikadierte sich Miki noch mehr in seinem Schweigen, was bei Gabi irgendwann zu Zähneknirschen und aufeinandergepressten Kiefern führte; zu Wut, die ihn immer gern mit offenen Armen aufnahm. Die Wut, die eine kleine Exekutivabteilung entwickelte: Kleider gewaltsam ausziehen, dabei Hände und Füße verdrehen und zwicken; an den Ohren ziehen, starker Druck auf den Kopf, knurrend an die Wand drücken, vollgehäufte Löffel in den vom Weinen aufgerissenen Mund stopfen. Du redest nicht? Da hast du’s, kleiner Held, da hast du dein Schweigen, du unverschämter Lümmel . Und das Adrenalin, das währenddessen in ihm pochte, die Schreie des weinenden Jungen und die tiefe Reue fünf Minuten danach, die gegenseitige Bitte um Verzeihung und der Schwur, den er sich selbst leistete, es nie mehr so weit kommen zu lassen, nicht gegen seinen kleinen Sohn.
    Neben diesen Erinnerungen gibt es die mildernde Randbemerkung, die besagt, wir haben zu viel Zeit zusammen verbracht, während Mama studiert hat und nach Afula gefahren ist, wir sind uns auf die Nerven gegangen, wir haben gelernt, zusammen zu leben, wir haben doch erst gelernt, zusammen zu leben, wir waren mitten in dem Prozess, und wir hätten es geschafft, es hätte sich geregelt, wenn wir nur die Gelegenheit gehabt hätten. Doch die strenge, unversöhnliche Randbemerkung sagt, du bist es nicht wert, ein Vater zu sein, und du warst es nie. Diese Aufgabe war zu groß für dich, und daher wurde dir diese Aufgabe genommen. Du bist geprüft worden, und du hast versagt.
    Als Gabi später etwas über die Macht des Schweigens lernen sollte (»Schweig. Es heißt, du sollst schweigen. Denn dies befördert das Denken, das über dem Reden steht. Denn der Zaddik enthält sich des Redens«), würde er seinen Sohn noch mehr schätzen, in seinem Schweigen das Vermächtnis des Starken sehen, der den Schwachen hinter sich ließ, damit er lernte und sich besserte.
    Rotes Licht an der Ampel – häufig ist das nur eine Empfehlung. Wenn man jung und voller Sicherheit ist, nach rechts und links schaut, wie es einem beigebracht wurde, und kein Auto weit und breit sieht, geht man auch bei Rot über die Straße. Einmal in der Kindheit, am Busbahnhof von Tiberias, wurdest du von einem Polizisten aufgehalten, der dir eine symbolische Strafe verpasst hat, aber du hast seit Jahren nichts von einer ähnlichen Strafe gehört und nimmst an, dass sich die Polizei nicht mehr mit solchen Geringfügigkeiten abgibt. Es fängt mit einer leeren Straße am Fußgängerübergang an, geht weiter mit dem Überqueren einer Straße nicht am Fußgängerüberweg und reicht bis hin zu Entscheidungen, nicht nur hinüberzugehen, wenn keine Autos da sind, sondern auch wenn man sie sieht, aber schätzt, dass man es schafft. Ein- oder zweimal ist man nahe dran, fängt sich ein Hupen oder einen Schrei ein, ganz selten einmal klopft einem das Herz, oder die Haare stehen einem zu Berge, und der Kopf sagt, du musst aufpassen, denn das könnte böse

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