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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Grund dem Rasen vorzogen, wie die Menschen. Sie verbreiteten einen abgrundtiefen Gestank, grauenerregend, vielleicht waren es die Ausscheidungen, vielleicht die Ausdünstung der faulenden Leiber der Glücklosen unter ihnen, die von den Stiefeln der Kibbuzniks zerquetscht wurden oder auf andere Art den Tod fanden. Im Rückblick blieb ein großer Gestank im Gedächtnis und das außerordentliche Schauspiel Hunderttausender kleiner schwarzer Leiber auf dem nackten, glatten Beton, zwischen den schönen Rasenflächen, die Vater Jossi mit seiner Ziergartenmannschaft kultivierte, und den kleinen Häusern, die Zimmer genannt wurden.
    Von seinem Vater und seiner Mutter dagegen hatte er kein Bild, keinen Geruch oder Klang, die er hätte festhalten können, doch es gab biologische Tatsachen. Name, Alter, Todesursache, Größe, Haarfarbe. Woher kam die Invasion der Käfer? Vom Berg, sagte Mutter Gila. Und wozu kamen sie in den Kibbuz? Um Nahrung zu finden und Schatten, sagte Vater Jossi. Mutter Gila, Vater Jossi – im Gegensatz zu den richtigen, echten Eltern. Es war nie ein Geheimnis gewesen. Es war keine Geschichte, die im Verborgenen schwelte, und eines Tages, im Alter von zehn und noch was, nimmt dich der vermeintliche Vater auf eine Reise mit und erzählt dir unterwegs, dass er nicht dein Vater ist, erst Schock, dann Tränen – aber warum habt ihr mir nichts erzählt? Es war keine Geschichte, in der die anderen Kinder hinter seinem Rücken flüsterten und kicherten, bis eines Tages eines mit einer Spur Neugier, vielleicht Grausamkeit, zu ihm gesagt hätte, weißt du, mein Papa hat mich schwören lassen, dir nichts zu verraten, aber er hat gesagt, dass dein Papa und deine Mama nicht deine richtigen Eltern sind, und er in Tränen ausgebrochen wäre und gefragt hätte, aber was sind nicht richtige Eltern, wie kann so was sein? Und er wäre nach Hause gerannt, hätte sie gefragt, und sie hätten sich mit so einem Blick angeschaut – das musste ja irgendwann kommen, es wäre uns nie gelungen, das Geheimnis ewig zu bewahren, und der Vater hätte seine Hand genommen und betrübt zu ihm gesagt: »Hör zu, Gabi.«
    Nein, eine solche Geschichte war es nicht. Mutter Gila und Vater Jossi waren von Anfang an Mutter Gila und Vater Jossi, nicht Mama und Papa, und Ronis und Gabis Familienname war immer Kupfer – bis Gabi ihn Jahre später hebraisieren würde –, und die Geschichte von ihren echten Eltern vernahmen Roni und Gabi mehr oder weniger mit den ersten Worten, die sie hörten.
    Er erinnerte sich, wie sein Bruder Roni schrie: »Mutter Gila! Vater Jossi!«, nachdem er ihn auf der anderen Seite der Umrandungsstraße am Kibbuzzaun gefunden hatte, hinter dem die Pflaumenplantagen lagen. In seinem Mund befanden sich zwei schwarze Käfer, lebend, aber nicht mehr ganz. »Mutter Gila! Mutter Gila! Gabi isst Käfer!«
    »Was?!«, hörte man ihren Schrei aus dem Haus.
    Zu ihren Gunsten muss gesagt werden, dass sie schnell reagierte, als erstes mit einem Aufschrei, als zweites rannte sie im Nachthemd nach draußen, um ihn in die Arme zu nehmen. Sie war nicht böse, versohlte ihm nicht den Hintern, schrie den großen Bruder nicht an, weil er nicht auf den Kleinen aufgepasst hatte, sondern spülte ihm schnell den Mund aus und gab ihm Saft und Bonbons, um den Geschmack zu vertreiben, und dann betrachtete sie ihn. Er lächelte sie an, anscheinend mit einer gewissen Gleichmütigkeit, vielleicht auch ein bisschen Neugier, und sie brach in ein verblüfftes Lachen aus.
    Als Vater Jossi nach Hause kam, hob er den Winzling mit seinen von der Sommerarbeit sonnenverbrannten Armen hoch und sagte: »Was hab ich von dir gehört, kleiner Kannibale?« Der kleine Gabi konnte damals noch nicht sprechen, aber lachen konnte er, und das tat er, und ab da nannte ihn Vater Jossi hin und wieder »Kannibale«, und er tat es häufiger, als Gabi anfing, blutige Steaks zu verschlingen, die Vater Jossi am Unabhängigkeitstag und bei den übrigen Frühlingsfesten über dem Feuer grillte, und sogar noch, als er nach einigen Jahren zum Vegetarier wurde, infolge eines Ereignisses, bei dem noch ein paar schwarze Käfer von der gleichen Sorte, die er an jenem Tag damals gegessen hatte, in seinen Mund gelangten. Vater Jossi kehrte von seinem Arbeitstag zurück, hob den kleinen Gabi hoch und nannte ihn Kannibale, und alle vier Familienmitglieder lachten aus vollem Hals: ein warmherziges Familienbild aus den Siebzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Seine erste Erinnerung

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