Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
dem Tympanon von Santa Maria
Leyre, Eine spanische Matrone
tanzt Stierkampf mit ihrer Tasche
9.
KAPITEL
Die Kunst I
Manchmal fragt Geschichte bei
der Kunst an und erhält eine historische, politische Antwort. Manchmal ist die
Antwort auch eine theologische, vielleicht „nur“ eine ästhetische. — Ich will
ein wenig über unsere künstlerischen Eindrücke und Erlebnisse auf den
„Jakobswegen“ berichten. Denken wir noch einmal an die „Wege“: Aus fast allen
europäischen Ländern wurden die Pilger über Sammelstationen — etwa Aachen oder
Einsiedeln — zu einem der vier „Wege“ durch Frankreich geführt, dem von Paris
über Tours, dem von Vézelay, dem von Le Puy und dem von Arles. Nach der
Überquerung der Pyrenäen bei Roncesvalles oder am Somport-Paß vereinigten sich
alle Straßen bei Puente la Reina zum „camino francés“.
Was „passierte“ auf diesen
Wegen, die in Spanien zu einem Weg werden? Die Pilger bereiteten sich auf den
gewaltigen, erlösenden Einzug in Santiago de Compostela vor. Die Möglichkeiten
individueller Vorbereitung waren sehr begrenzt. Wer konnte schon lesen in der
mittelalterlichen Hochzeit der Pilgerfahrt? — So wuchs denn allenthalben die
Bilderbibel der Skulpturen und Bilder aus den Steinen der Türgewölbe und
Kapitelle, die „biblia pauperum“, die Bibel der Armen, die deshalb so
erschütternd und erhebend ist, weil sie den „Armen“ einen Reichtum zuwendet,
der in der abendländischen Kunst seinesgleichen sucht. Paradox ist das, aber es
entspricht wohl genau dem Satz der Bergpredigt: „Selig sind die Armen im
Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5, 3). So schüttet die Kunst der
Romanik ihr Füllhorn über die wandernden Pilger und Sucher aus — und dieses
Füllhorn wirkt weiter über die Jahrhunderte bis zu uns. Wir haben es erlebt.
Notieren wir zunächst die
Plätze der französischen Pilgerstraßen, an denen wir Halt gemacht und große
Kunst erlebt haben. Diese
sind:
- Vézelay
- Clermont-Ferrand
- Conques
- Cahors
- Moissac
- Toulouse
- Oloron.
Es gibt viele andere Orte von
großer Bedeutung und Wichtigkeit. Doch ich will bei dem beginnen, was ich
selbst gesehen habe ; dabei bleiben die Hoffnung und Vorfreude auf so
vieles Noch-nicht-Gesehene. — Auch die Beschreibung des wirklich Gesehenen kann
nicht vollständig sein ; der Platz dieses Buches würde nicht reichen.
Zunächst Vézelay,
Anfangsstation der „Via Lemovicensis“.
- Der Ort liegt auf einer
Anhöhe, gekrönt von der Kirche Ste-Madeleine. Weit blickt man von dort ins
liebliche Land Burgund.
Schon im 9. Jahrhundert steht
auf der Bergkuppe von Vézelay eine Kirche. Auch sie ist ein Ziel von
Wallfahrten: die Reliquien der heiligen Maria Magdalena werden hier verehrt. —
Am 22. Juli des Jahres 1120 — am Namenstag der Maria Magdalena! — geht die
Kirche in Flammen auf; tausend Pilger sterben. Ihr Wiederaufbau beschert uns
die heutige Kirche, das Hauptschiff und den Vorbau, den Narthex. Es gibt
Wunderbares in diesem Bau: die Kapitelle im Hauptschiff, die Türplastiken in
der Portalfront zwischen Narthex und Hauptschiff. Von erlesener Eleganz ist der
gotische Chor. Seine zauberhafte Zartheit, sein doppelter Umgang um das
Heiligtum erinnern an St-Denis. Schönere Gotik im Stadium des Übergangs von der
runden, bodenständigen, irdisch-betenden Romanik zur
spitzbögig-himmelstrebenden „betenden Hand“ des „neuen Stils“ gibt es fast
nirgends. — Uns Aachener ergreift diese Kombination ganz besonders, lieben wir
doch die Beziehung zwischen romanischem Oktogon und gotischem Chorbau unseres
Domes so sehr. Aber in Vézelay liegen die Stilepochen nicht so weit auseinander
wie in unserer Heimatstadt. Nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert verbindet
in Vézelay Langschiff und Chor. In Aachen sind es Jahrhunderte.
Aus den Kapitellen sprechen uns
wahrhaft „tolle“ Szenen an: Wollust und Verzweiflung als Schlangen in Bauch und
Brüsten der Frau ; Züchtigung des säckeraffenden Geizes und des
Verleumders; drastische Verteidigung der in Männerkleidern lebenden hl. Eugenie
gegen den Vorwurf der Vergewaltigung einer Mitschwester ; die
„mystische Mühle“, in der aus dem groben Korn des Moses das feine Mehl des
Paulus gemahlen wird; der Tod des „Reichen“ mit herausgerissener Seele vor dem
himmelwärts getragenen Lazarus ... das sind wenige Beispiele aus dem Katalog
der etwa 100 Kapitellplastiken! Diese Bilderwelt ist
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