Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
überwältigend.
Doch als wir uns von der
Bilderwelt der Kapitelle, den großen, edlen Maßen des romanischen
Kirchenschiffs und den Verzauberungen des gotischen Chores mit seinen
Altarnischen lösen können, kehren wir zurück zur Skulpturenwand zwischen
Narthex und Hauptschiff. Dort erleben wir das „Eigentliche“ von Vézelay.
So betont auch Helmut Domke:
„...die Darstellungen des Heilsgeschehens sind auf die Tympana der
Narthex-Portale verlegt.“ 11 Die
„Darstellung des Heilsgeschehens“ am Tympanon von Vézelay ist so etwas wie eine
„Initialzündung“. Unser Reiseleiter Helmut Deutz hatte mir bei der Vorbereitung
der Reise eine besondere Aufgabe gestellt: „Könnten Sie vielleicht in Vézelay
das ,Factus est repente’ aus der alten Pfingstliturgie in der Vertonung von
Aichinger singen?“ Nun, wir können es nicht; wir haben nicht die Besetzung
dazu. Aber das Thema stimmt: Stellen wir uns doch vor, wir seien Pilger aus
weiter Ferne, und wir stehen nach vielen Mühen vor dem Tympanon von Vézelay.
Was würden wir da sehen, denken, fühlen? Wir sehen einen Christus, der Kraft
aussendet auf seine Apostel. Der Christus ist übergroß, seine Hände sind die
Kraftzentren, aus denen Strahlen auf die Apostel niedergehen. „Factus est
repente“, die Übersetzung:
„Es erhob sich plötzlich
vom Himmel das Brausen
eines nahenden, gewaltigen
Sturmes
dort, wo sie saßen,
und erfüllt wurden alle
vom Heiligen Geiste,
kündend die Großtaten Gottes.
Alleluja!“ 51
Und so sehen wir sie denn in
großer Erregung und Bewegung, die geisterfüllten Apostel im inneren Halbkreis
des mittleren Tympanon, rechts und links vom Christus, der den Halbkreis
sprengt und mit seinem Haupt hineinragt in den Reigen der Völker, die den
inneren Halbkreis in einem Halbring aus acht Feldern umgeben, von einem
weiteren Halbring mit den Tierkreiszeichen und den Arbeiten des Jahreslaufs
eingerahmt. Unter dieser dreifachen Komposition verläuft als waagerechte Basis
der Halbkreise ein Fries mit den Darstellungen der noch unerlösten Völker. Sie
sind kleiner dargestellt als die schon erlösten im Halbkreis um Christus, auch
absonderlicher, fremder. Mitten unter dem Tympanon steht auf einer Säule, die
den Eingang teilt, der Täufer Johannes und verweist auf das „Lamm Gottes“, das
Symbol Christi. (Ich muß hier an den Jakobus im „Portico de la Gloria“ denken!)
Das theologische Programm ist
klar: Christus ist die Mitte ; der Geist bewegt die Apostel; die
Völker finden zu Christus; die kosmischen Bezüge nehmen teil an der Anbetung.
Auch die noch Fernstehenden im waagerechten Fries haben die Verheißung der
Erlösung. Johannes weist allen den Weg zum Gotteslamm.
Kleine Tympana rechts und links
vom Hauptportal erzählen biblische Szenen: Verkündigung, Heimsuchung, Geburt
und Anbetung der Weisen im südlichen, Erscheinungen des auferstandenen Christus
im nördlichen Portal. — So werden die großen christianischen Aussagen des
Mittelportals mit ihrem „missionarischen Impetus“ begleitet von den biblischen
Zeugnissen, den „Belegen“ sozusagen. — Das ist eine Predigt!
Manche Figur in den Tympana von
Vézelay ist beschädigt, viele Gesichter sind zerschlagen. Bilderstürmerei bis
hin zur „großen Revolution“ des Jahres 1789 hat hier gewütet. Schon im 14.
Jahrhundert, als es Konkurrenz um den wahren Ort und Hort der Reliquien der hl.
Maria Magdalena gab, verödete Vézelay. Die Kirche verlor ihre Anziehungskraft.
— Wir sehen wieder einmal, welches „Kapital“ Reliquien darstellen können!
Im 19. Jahrhundert fand die
Kirche der Ste-Madeleine ihren Retter: Der Dichter Prosper Mérimée macht die
Öffentlichkeit auf das verfallene Juwel aufmerksam und setzt die Restaurierung
in Gang. Sie dauert von 1840 bis 1859. Alles geschieht unter der Leitung des
Baumeisters Viollet-Le-Duc. — Prosper Mérimée ist der Dichter der „Carmen“ —
und er rettet die Reliquienkirche der Maria Magdalena!
Unsere nächste „Kunststation“
ist Clermont-Ferrand. Ste-Marie-du-Port heißt die Kirche, die wir besuchen.
Hier steht weniger das einzelne
Bild im Vordergrund des Interesses, als vielmehr die erste Begegnung mit dem
„Typus“ der Pilgerkirche, den wir später in höchster Vollendung in Toulouse und
Santiago de Compostela erleben werden.
Wir finden eine dreischiffige
Basilika vor, als „Kreuzbalken“ dazu das Querschiff, im Schnittpunkt beider
Schiffe die hohe Kuppel der Vierung. Die Höhe der
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