Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
Seitenschiffe fällt auf. Sie
haben eine Empore, deren Innenfenster auf das Hauptschiff schauen:
Aussichtstribüne für die Pilger, zugleich Schlafboden. Über dem Hauptschiff ein
Tonnengewölbe, Kapitelle an den bogentragenden Säulen zwischen Hauptschiff und
Seitenschiffen, bis hoch hinauf in die „Galerie“, kein eigener Obergaden des
Hauptschiffs, Licht nur von den Seiten. Dann vor allem der Chorumgang, der
Konchenkranz um den Altar, in den man aus den Seitenschiffen ungehindert
hineingeht. — In dieser Pilgerkirche herrscht das Prinzip der geordneten,
zielgerichteten Kommunikation! Durch diese Kirche „pilgert“ man. — Gleiches
wird uns wieder begegnen: in Ste-Foy zu Conques, in St-Sernin zu Toulouse, in
Santiago de Compostela. Pilgerkirchen sind Sakralräume, in denen man sich
„bewegt“, in denen Pilgerweg ausläuft in bewegende, bewegte Begegnung. Man
kommt an, man lebt und bewegt sich am Ankunftsort, man staunt und betet. —
Damit dies geschehen kann, sind die Pilgerkirchen gebaut, sind ihre
Bewegungsabläufe erdacht. Leibliches und geistliches Wohl sind ganz nah
beieinander. Das „aggiornamento“, die Lebensnähe, die Zeitnähe ist keine
Erfindung unserer Tage. Johannes XXIII. hat die Modernität der Kirche in sehr
alten Tugenden und Traditionen wiederentdeckt. Die Pilgerkirchen der
romanischen Jakobsstraßen erinnern an das Miteinander von Leib und Seele, das
wir heute so dringend leben müssen. Der Pilger zieht ein, er geht umher, er
schläft, er wird neu gekleidet, er sieht zu, er betet, er denkt nach, er
wandert weiter.
Nach Clermont-Ferrand besuchen
wir die alte Benediktinerabtei Ste-Foy in Conques. Sainte Foy, die heilige
Fides: das ist eine rührende und zugleich raffinierte Geschichte. Wieder geht
es um Reliquien, um die Gebeine eines um 300 von den Römern getöteten
Christenmädchens. Zwölf oder dreizehn Jahre alt sei es bei seiner Enthauptung
gewesen. Erst wollte man es verbrennen, aber die Flammen hätten das Kind nicht
angerührt. In Agen wurde der Leichnam der jugendlichen Märtyrerin auf bewahrt
und verehrt. Im 9. Jahrhundert habe dann ein Mönch aus Conques die sterblichen
Überreste in der Kirche Saint-Caprais in Agen gestohlen und in sein
Heimatkloster Conques gebracht. Von da an datiere die Geschichte des berühmten,
viel besuchten und reich werdenden Wallfahrtsortes Conques. Da gibt es dann
allerhand „Richtigstellungen“: der Mönch habe die Reliquien nur vor den
räubernden Normannen in Sicherheit bringen wollen... egal, Conques hat die
kostbaren Reliquien und erlebt seine große Blüte.
Es ist ein besonderer
Glücksfall — oder eine Folge besonderen Geschicks der Mönche von Conques — ,
daß zum Eigenwert als Wallfahrtsort eine zunehmende Bedeutung als wichtige
Station der „Jacquaires“, der Jakobspilger, kommt. So entsteht um 1050 die
romanische Pilgerkirche, die wir heute noch sehen und deren Grundstruktur der
Kirche „Ste-Marie-du-Port“ in Clermont-Ferrand vergleichbar ist.
Helmut Domke beschreibt Ste-Foy
so: „Über den Nebenschiffen des Lang- und den Seitentrakten des Querbaues
wurden Emporen für Pilgerlager und Andacht eingemuldet. Um den Chor zog man
einen Prozessionsgang mit Kapellen, ließ schmale, hohe Seitenarkaden dem Chor
entgegenwallen und legte den Pfeilern schlanke Dienste vor, die das Auge nach
oben lenkten. Man spürt es noch heute, Pilgergeist waltet.“ 52
Das ganz Besondere, Einmalige
in Conques ist das Tympanon am Westportal. Es hat nicht seinesgleichen und ist
— für mich — der Gegenpol zum Portico de la Gloria in Santiago de
Compostela. Ich habe das im früheren Kapitel über „das Ziel“ schon angedeutet
und möchte jetzt noch einiges dazu sagen.
Das Tympanon von Conques zeigt
das Weltgericht durch den in der Mandorla thronenden Christus. Die
imperatorische Gestik dieses Christus ist programmatisch für die ganze
Bilderwand. Die rechte Hand ist erhoben und segnet, die linke weist nach unten
und verdammt. „Discedite a me“ steht über der Linken. „Weichet von mir!“
Gemeint sind die Sünder, die wegen ihrer Sünden Verfluchten und die Verdammten.
Mir fällt es schwer, dem
Tympanon von Conques gerecht zu werden. Doch ich will mich ganz vorsichtig und
sachlich an das grandiose Bildwerk heran tasten.
Christus also in der Mitte. Er
teilt das ganze Tympanon in Gut und Böse, halb und halb. Die guten Erlösten zur
erhobenen Rechten, die bösen Verdammten zur gesenkten Linken. Die Bilder sind
von praller Plastizität. In
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