Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
dem muschelförmigen
Badestrand, tummeln sich fröhliche Menschen im Wasser und in der Sonne. Seit
dem 19. Jahrhundert war San Sebastián königliche Sommerresidenz. Noch heute
versammelt sich die Prominenz des Landes im Juli und August an diesem
begnadeten Flecken Erde: Politiker, Filmstars, Stierkämpfer, Fußballer,
Industrielle und Bankiers beziehen ihre Schlösser, Hotels und Bungalows.
Am nächsten Morgen halten wir
unsere letzte Meßfeier in der Kirche Santa Maria, einem barocken Bau aus dem
18. Jahrhundert. Auch hier wird ein Abschied spürbar. Wir empfinden, daß wir
aus der „Pilgerwelt“ allmählich wieder in die „Alltagswelt“ zurückgleiten.
Pilgerfahrt markiert einen
Ausnahmestatus, sowohl in der Anstrengung als in der Entrückung.
Die Heimkehr: Was nehmen wir
mit? Was bringen wir zurück? Haben wir nur eine Pflicht absolviert oder unser
Vergnügen gehabt? Geht nachher alles so weiter, wie es war?
Wenn wir an den
mittelalterlichen Pilger denken, der sich für ein Jahr oder mehr auf den
Pilgerweg nach Santiago macht und in dieser Wallfahrt die große Zäsur seines
Lebens sieht, dann begreifen wir schon, daß die Pilgerfahrt ihn prägte.
Da ist der Verurteilte, der
wegen verübter Verbrechen nach Richterspruch den mühsamen Pilgerweg gehen muß.
Kommt er zurück und weist die Testate der Oberen von Santiago und seine
abgewetzten Ketten vor, so ist die verhängte Strafe geleistet. Aber nicht nur
die Strafe ist „absolviert“, sondern er, der Verbrecher selbst, hat gesühnt,
hat „Absolution“, Lossprechung erfahren.
Da ist der Vagabund, der aus
Lust am Abenteuer und mit einem weiten Gewissen auf die Reise geht, vielleicht
auch als bezahlter „Vertreter“ für einen, der sein Gelübde nicht mehr selbst
ausführen kann oder möchte. Was mag er erzählen nach der Heimkehr, zuerst aus
Großmannssucht, dann unmerklich dem Erlebnis auch innerlich verfallend und den
Kern des Erlebten erahnend?
Da ist der Pilger aus geistlichem
Entschluß, Haus und Hof, Frau und Kinder zurücklassend und sein Gelöbnis
ausführend. Eine Fülle von Motiven mag ihn zu diesem Gelöbnis gebracht haben:
Krankheit, Schuld, Qual der inneren Einsamkeit, Drang zur Selbstfindung,
vielleicht Liebe zu Gott und den Heiligen. — Was auch immer sein Pilgermotiv
ist, er kommt reicher zurück, als er beim Aufbruch war ; reicher
vielleicht auf andere Weise, als er ersehnt und erbetet hat, aber reicher. Er
muß es nur ergründen und verstehen ...
Da bin auch ich. Meine Motive?
Ich finde mich im Verbrecher, im Vagabunden und im tastenden Gottsucher wieder.
Alle drei haben in Santiago Hilfe erfahren, Hilfe und Anleitung zu einem
höheren Ring auf der Lebensspirale. Rilke sagt:
„Ich lebe mein Leben in
wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten
vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den
uralten Turm,
und ich kreise
jahrtausendelang…“ 89
Das besagt auch, daß der Anstieg
nicht im einmaligen Ansprung gelingt: „ich kreise jahrtausendelang“... Habe
ich, haben wir die Zeit zu dieser Evolution? Manchmal denke ich, auch in der
Ewigkeit müsse Gott uns noch die Chance geben, zu dem zu werden, den er sich
erträumt hat, als er uns schuf.
Ist das vielleicht der Sinn des
vielbelächelten „Fegefeuers“?
Kein „Fertiger“ kommt heim von
Santiago, sondern ein „Immer-noch-Verbrecher, Vagabund, Gottsucher“; und doch
einer, der sich erhofft, in den „wachsenden Ringen“ ein wenig vorangekommen zu
sein. Über das Maß mag Gott befinden.
Wir sind nicht entsagungsvoll
gepilgert, sondern haben in relativem Luxus und Wohlbefinden unsere Reise zu
Sankt Jakobus gemacht. Über uns, genau über uns, schreiben Pierre Barret und
Jean-Noel Gurgand: „Sind es erneut Pilger? Sind es nur Touristen? Niemand
begibt sich zufällig nach Finisterre, an dieses ,Ende der Welt’. Über das
Dröhnen der Motoren... hinweg bleibt etwas von der Anziehungskraft dieses
Fleckchens Erde bestehen. Doch wen besucht man? Den Heiligen? Oder das
Heiligtum? Für die einen ein heiliger Ort, für andere das Ziel einer
außergewöhnlichen Reise zu romanischen Kulturdenkmälern, auf jeden Fall Zeuge
von zehn Jahrhunderten christlich-abendländischen Geisteslebens, so ist
Santiago uns nach wie vor aufs innigste vertraut.“ 27
Es gibt — noch — keine
Quintessenz der Heimkehr. Es gibt wohl ein Bündel persönlicher Überlegungen für
jeden von uns und die Bereitschaft,
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