Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
konnte sie das genauso wenig wissen wie er.
Sie zuckte die Schultern. »Früher oder später werden sie sein Angebot annehmen. Kein Mensch kann sagen, wann es zu einem Urteil kommen wird – das Gericht ist mit den Zivilprozessen weit im Verzug –, also werden sie irgendwann nachgeben. Solche Leute können sich nicht ewig einen Anwalt leisten.«
»Und der Junge?«
»Der Anwalt sagt, es wird für sie alle ein Segen sein, wenn er stirbt. Auch für den Jungen.«
Brunetti ließ etwas Zeit verstreichen. »Und der andere Fall?«, fragte er schließlich.
»Da geht es auch um die Lagerhäuser. Die gehören ihm nicht: Er hat sie gemietet. Und der Vermieter will ihn raushaben, weil er auf den Grundstücken Wohnhäuser bauen möchte.«
»Bitte«, flehte Brunetti die Zimmerdecke an, »kann mir mal jemand was aus Venedig erzählen, das ich noch nicht gehört habe?«
Sie ging darüber hinweg. »Und je länger der Prozess sich hinzieht, desto länger kann er die Lagerhäuser benutzen.«
»Wie lange läuft dieser Prozess schon?«
»Drei Jahre. Einmal hat er seine Arbeiter zur Ca’ Farsetti geschickt und gegen die Vertreibung demonstrieren lassen, direkt vor dem Eingang, den der Bürgermeister immer benutzt.«
»Und wie hat der reagiert? Mit welcher Taktik ist er auf sie zugegangen?«
»Meinen Sie, wie er die Arbeiter beschwichtigt hat, während er gleichzeitig keinen Zweifel daran gelassen hat, dass seine Sympathien vollständig auf Seiten ihrer Arbeitgeber seien?«
Brunetti hob ehrfürchtig die Hände, als habe die Sibylle von Cumae persönlich zu ihm gesprochen. »Selten hat jemand die politische Philosophie dieses Mannes so klar auf den Punkt gebracht.«
»Diesmal ist unser verehrter Bürgermeister der Situation aus dem Weg gegangen«, erklärte Signorina Elettra. »Jemand muss ihm gesagt haben, dass da draußen nur fünf Arbeiter waren: Das war ihm nicht der Mühe wert.«
»Was hat er getan?«
»Den Seiteneingang benutzt.«
»Ein weiterer Beweis für sein Genie«, sagte Brunetti. »Und der Prozess?«
»Wie es aussieht, hat Puntera in Marghera eine größere Halle gefunden, in die er nächstes Jahr alles verlagern wird.«
»Und bis dahin?«
»Wird sich der Prozess wahrscheinlich weiter durch die Gerichte schleppen«, sagte sie, als sei dies der natürliche Lauf der Dinge.
Nur aus Neugier fragte er: »Was ist mit den anderen Prozessen auf der Liste? Haben Sie dazu auch etwas herausgefunden?«
»Nein, Dottore. Dazu hatte ich keine Zeit«, sagte sie.
»Die können auch noch warten«, fand Brunetti. »Wenn Sie das nächste Mal mit Ihrem Freund vom Tribunale sprechen, könnten Sie in Erfahrung bringen, ob er irgendetwas über Fontanas Privatleben weiß?«
»Aus dem zu schließen, was ich neulich im Café von ihm gesehen habe«, sagte sie ernst, »würde es mich überraschen, wenn er eins hatte.«
»Vielleicht sollte man nicht Privatleben sagen, sondern geheimes Leben«, meinte Brunetti. Sie blickte auf, sagte aber nichts, also fuhr er fort: »Rizzardi hat Hinweise darauf entdeckt, dass er schwul war.«
Sie reagierte sichtlich überrascht, und er beobachtete, wie sie ihre kurze Begegnung mit Fontana noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren ließ. »›Oh, die ihr Augen habt, und sehet nicht‹«, sagte sie und ließ kopfschüttelnd das Gesicht in ihre Hände sinken. »Natürlich, natürlich.«
Brunetti gab ihr schweigend Gelegenheit, die verschiedenen Möglichkeiten durchzugehen. Als sie den Kopf hob, fragte er: »Wenn wir das mal annehmen: Wie erklären Sie sich dann seine Bewunderung für Richterin Coltellini?«
Statt zu antworten, nahm sie ihr Kinn in die Hand und presste die Finger auf die Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie nachdenken wollte. Er ließ sie gewähren und stellte sich ans Fenster, aber dort war es genauso stickig.
»Entweder hat sie etwas über ihn gewusst und es keinem verraten, oder sie hat ihm einen Gefallen getan und er wollte sich dafür erkenntlich zeigen«, hörte er sie hinter sich sagen. Er schwieg weiter und hoffte, es käme noch mehr.
»Allerdings eine ziemlich übertriebene Dankbarkeit«, fügte sie hinzu.
»Könnte es einen Zusammenhang damit geben, dass sie Richterin ist?«, fragte Brunetti.
»Möglich. Er hat sich wie jemand angehört, der aus einfachen Verhältnissen kommt. Also könnte es sein, dass er sich durch die Freundschaft – obwohl das vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist – mit einer Richterin gesellschaftlich aufgewertet sah.« Sie
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