Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
näherte sich dem Kopf einer der zugedeckten Gestalten. Brunettis immer noch feuchten Rücken durchlief ein eisiges Frösteln. »Einmal habe ich DNA -Proben ins Labor geschickt«, sagte der Doktor. »Es ging um einen Fall in Mestre– die Ergebnisse kamen erst nach zwei Wochen.«
»Verstehe«, sagte Brunetti. Um einen lässigen Eindruck bemüht, wandte er sich ab und ging ein paar Schritte auf die Ausgangstür zu. Er hüstelte, was von der Kälte kommen mochte, und sagte: »Ettore, ich möchte dich etwas fragen, und bitte glaub mir, dass ich Anlass zu dieser Frage habe.«
Rizzardi sah ihn ruhig an. »Worum geht es? Um wen?«
»Signorina Montini. Elvira.«
Brunetti wartete. Rizzardi streckte in Gedanken die Hand nach dem zugedeckten Körper aus, und Brunetti krampfte sich der Magen zusammen, aber dann strich der Doktor nur eine Falte glatt. Ohne den Blick von der Gestalt abzuwenden, sagte er: »Sie ist unsere beste Mitarbeiterin. Und sie hat mir im Lauf der Jahre, mehr als zehn sind es schon, so manchen Gefallen getan.«
»Ich bewundere deine Loyalität, Ettore, aber Elvira könnte Beziehungen zu jemandem haben, mit dem sie sich besser nicht eingelassen hätte.«
»Wer soll das sein?«
Brunetti schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht.«
»Wirst du es herausfinden?«
»Ich denke schon, ja.«
»Willst du mir etwas versprechen?«, fragte Rizzardi und sah ihn endlich an. In all diesen Jahren hatte Rizzardi ihn nie um einen Gefallen gebeten.
»Wenn ich kann.«
»Sagst du ihr Bescheid, falls noch Zeit ist?«
Brunetti hatte keine Ahnung, worauf das hinauslaufen mochte – womöglich würde er Vorschriften verbiegen oder gegen die Regeln verstoßen müssen. »Falls noch Zeit ist. Ja.«
»Gut«, sagte Rizzardi. Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Vor ungefähr einem Jahr fiel den Kollegen auf, dass etwas mit ihr nicht stimmte, zumindest haben sie erst dann mit mir darüber gesprochen. Seit dieser Zeit ist sie launisch, schlecht aufgelegt, manchmal auch übertrieben gut aufgelegt, aber solche Stimmungen halten immer nur ein paar Tage an. Früher hat sie immer tadellose Arbeit abgeliefert: Sie war ein Vorbild, an dem die anderen im Labor sich orientiert haben.«
»Und jetzt?«
Rizzardi wandte sich von der zugedeckten Gestalt ab und begann in Richtung Tür zu gehen. Kurz davor blieb er stehen, drehte sich um und sah Brunetti in die Augen. »Aber jetzt kommt sie ständig zu spät oder auch gar nicht. Und sie macht Fehler, verwechselt Proben, lässt Gegenstände fallen. Nichts davon war so schwerwiegend, dass es irgendwem geschadet hätte, aber man befürchtet, dass es dazu auch noch kommen könnte. Einer ihrer Mitarbeiter hat den Eindruck, sie habe nicht den Mut zu kündigen und lege es darauf an, rausgeschmissen zu werden.« Rizzardi schwieg.
»Was ist sie für ein Mensch?«, fragte Brunetti.
»Sie ist eine gute Frau. Introvertiert, einsam, nicht sehr attraktiv. Aber gut. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Aber wer kann so was schon wissen?«
»Richtig«, stimmte Brunetti zu. »Danke, dass du so offen zu mir warst.« Er fühlte sich verpflichtet, noch einmal auf sein Versprechen zurückzukommen, auch wenn er nicht verstand, worum es da ging: »Ich werde tun, was ich kann.«
»In Ordnung«, sagte Rizzardi und öffnete die Tür. Er ging hinaus, ließ die Tür auf, und Brunetti folgte ihm eilig in den deutlich wärmeren Korridor.
Brunetti ging langsam zum Ausgang, vorbei an der Cafeteria, in der Leute in Schlafanzügen und welche in Straßenkleidung saßen. Als er zu dem grasbewachsenen Innenhof gelangte, den der Wandelgang des ehemaligen Klosters umschloss, setzte er sich auf das Mäuerchen. Wie ein Taucher, der aus dem Wasser kommt, musste er sich erst einmal an die Lufttemperatur gewöhnen, bevor er sich wieder in die Sonne wagte. Zunächst einmal musste er alles neu sortieren, was er über den toten Fontana wusste. Was der Mann für seine Mutter empfunden hatte, würde er niemals erfahren: Das war bei jedem Mann ein schwieriges Thema. Aber sein Werben um Richterin Coltellini musste jetzt in einem anderen Licht oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Das war kein Fall von zum Scheitern verurteilter Schwärmerei oder verschmähter Liebe. Was hatte Signorina Elettra gesagt? Dass er der Richterin zu Dank verpflichtet schien, wie manche Leute der Madonna, wenn sie ihre Gebete erhört habe? Aber wenn sein Gebet nichts mit dem Zauber der Liebe zu tun hatte – womit hatte es dann zu tun?
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