Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
nicht der Einzige, der Zugang zu diesem Bericht hat«, sagte Patta. »Wenn das ruchbar wird – wie sollen wir damit umgehen?«
Brunetti betrachtete die Beine von Pattas Schreibtisch und dachte daran, wie lange Signora Fontana gewisse Dinge vor sich selbst verheimlicht hatte und wie ihr das gelungen sein mochte. Was erträumten sich Mütter für ihre Söhne? Und von ihren Söhnen? Ein zufriedenes Leben? Enkelkinder? Gründe, stolz auf sie zu sein? Brunetti kannte Frauen, die nichts anderes wollten, als dass ihre Söhne keine Drogen nahmen und nicht ins Gefängnis kamen; andere wollten, dass sie eine schöne Frau heirateten, ein Vermögen machten und einen hohen Rang in der Gesellschaft einnahmen; und einige sehr wenige wollten einfach nur, dass sie glücklich wurden. Was hatte Signora Fontana sich für ihren Sohn erträumt?
»Nun?« Pattas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Rizzardi hat mir gesagt, es werde eine Weile dauern, bis die Laborergebnisse vorliegen, Signore«, sagte Brunetti.
»Und?«
»Ich finde, wir sollten unsere Ermittlungen auf mögliche Verdächtige richten, die einen Mann wie –«
Bevor er den Namen Fontana nennen konnte, fiel Patta ihm ins Wort: »Ich habe den Eindruck, das ist kein Mann, den irgendjemand umbringen möchte. Vermutlich handelt es sich um gewöhnliche Straßenkriminalität.«
Brunetti hätte am liebsten gefragt, wieso er dann so brutal zu Tode geprügelt worden sei, aber er hielt sich vorsichtig zurück und meinte nur: »Es mag den Anschein haben, Vice-Questore. Doch jemand wollte ihm ans Leben und hat ihn umgebracht.« Er kannte Patta gut genug und wusste, jetzt käme er mit dem Vorschlag, das Verbrechen als Raubüberfall zu den Akten zu legen, damit die Menschen in der Stadt sich nicht weiter beunruhigten. Folglich setzte Brunetti zu einem Präventivschlag an: »Es könnte voreilig sein, von Straßenkriminalität zu sprechen, Vice-Questore. Niemand kommt gern zu Besuch in eine Stadt, wo die Leute bei Raubüberfällen getötet werden.«
Brunetti wusste, auch wenn Patta Sizilianer war, hatte er in Venedig lange genug unter Politikern und jenen verkehrt, die hier als High Society galten, um den venezianischen Glauben an den Tourismus verinnerlicht zu haben. Opfert kleine Kinder, treibt die Einwohner zusammen und verkauft sie als Sklaven, massakriert alle wahlberechtigten männlichen Bürger, bringt Jungfrauen auf den Altären der Götter dar: Tut das alles und mehr, aber rührt mir weder Touristen noch den Tourismus an. Das Schwert des Mars war nicht so mächtig wie ihre Kreditkarten; sie waren die wahren Eroberer.
»…hören Sie mir überhaupt zu, Brunetti?«
»Selbstverständlich, Signore. Ich suche gerade nach einer guten Formulierung für die Presse.« Auch Brunetti hatte die Sprache des Entgegenkommens gelernt.
Patta verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Blick auf seinen Schreibtisch, der so frei von Papier war wie sein Denken von Zweifeln. »Die Ergebnisse der Autopsie gelangen früher oder später sowieso an die Öffentlichkeit, also werden wir wohl sagen müssen, wir gehen davon aus, dass sein Tod mit seinem Privatleben zusammenhängt.«
»Ohne jeden Beweis?«, fragte Brunetti, dem Fontanas Mutter nicht aus dem Kopf wollte.
»Aber es gibt doch Beweise. Das Sperma eines anderen Mannes.«
»Das hat ihn nicht umgebracht«, hielt Brunetti etwas kopflos dagegen.
Patta stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte und presste seine Lippen an die gefalteten Hände, als hoffte er, so seine Worte zurückhalten zu können. Beide schwiegen geraume Zeit, schließlich fragte Patta: »Wollen Sie die Zeitungen unterrichten, oder soll ich Tenente Scarpa darum bitten?«
Nach Kräften um einen bescheidenen und vernünftigen Ton bemüht, sagte Brunetti: »Ich hielte es für besser, wenn der Tenente das machen könnte, Signore.«
»Sind Sie sicher, dass Sie das nicht übernehmen wollen, Brunetti? Schließlich sind Sie mit einigen dieser Reporter befreundet.«
»Vielen Dank, Signore, aber wenn ich ihnen die offizielle Version erzähle, muss ich auch sagen, dass ich selbst nicht daran glaube. Der Tenente ist im Umgang mit der Presse viel entspannter.« Brunetti erhob sich lächelnd von seinem Stuhl. Er ging zur Tür, machte sie auf und leise hinter sich zu und zog noch einmal daran, um sicherzugehen, dass sie richtig geschlossen war; es sollte doch nicht zu viel von der kalten Luft aus dem Büro des Vice-Questore entweichen.
24
Nach der Unterredung mit Patta
Weitere Kostenlose Bücher