Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
weil Sie meinen, er könnte schwul sein?« Der Vice-Questore, eigentlich nicht gerade ein Freund der Homosexuellen, hatte sich zornig von seinem Stuhl erhoben und weit über seinen Schreibtisch vorgebeugt. »Der Mann ist Bankdirektor. Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, was uns das für Ärger einbringen würde?«
Nicht weniger seltsam als Pattas Argumentation war die Tatsache, dass die Glocken von Madonna dell’Orto seit zwei Wochen nicht mehr läuteten. Als Brunetti den parocco danach fragte, bekam er die Auskunft, während der langen Urlaubszeit sei es unmöglich, jemanden zu finden, der sie reparierte, und so schlugen sie weder die Stunde noch zum letzten Geleit.
Die Frage, warum Signora Fulgoni lügen sollte, brachte Brunetti dazu, auch über ihren Mann nachzudenken. Banken waren Firmen wie alle anderen, überlegte er, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht Bleistifte oder Gartenwerkzeug produzierten, sondern Geld. Wie in allen Firmen würden die Angestellten auch dort Klatsch und Tratsch austauschen, was für das Ansehen der Leute in den oberen Etagen nicht folgenlos blieb. Jeder in der Questura wusste, dass Signorina Elettra – warum, hatte sie nie vollständig erklärt und war von niemandem je ergründet worden – ihren Job bei der Banca d’Italia aufgegeben hatte, um in der Questura zu arbeiten, also bat Brunetti sie, sich unter ihren Freunden aus der Bankenwelt einmal umzuhören, was so an Gerüchten über Lucio Fulgoni im Umlauf sei.
Wenige Stunden nachdem er diese Bitte an sie gerichtet hatte, kam sie zu ihm ins Büro. Er bot ihr einen Stuhl an. »Sie haben etwas herausgefunden, Signorina?«
»Leider nicht viel, und nichts Eindeutiges«, sagte sie.
»Will heißen?«
»Dass es einiges Gerede über ihn gibt.«
Er fragte gar nicht erst nach: Auch wenn der Mann Bankdirektor war, ging es höchstwahrscheinlich um sein Sexleben.
»Es gibt Spekulationen – zumindest habe ich das von zwei Leuten gehört – über seine sexuelle Ausrichtung.« Bevor Brunetti etwas dazu bemerken konnte, fuhr sie fort: »Beide Quellen versichern, sie hätten von anderen gehört, er sei schwul, aber keiner scheint irgendeinen handfesten Beweis dafür zu haben.« Das Übliche, deutete sie mit einem Schulterzucken an.
»Und warum gibt es dann Gerede?«, fragte Brunetti.
»Gerede gibt es immer«, antwortete sie sofort. »Ein Mann braucht sich nur irgendwie weich zu verhalten, etwas Eigentümliches zu sagen, und schon fängt jemand über ihn zu reden an. Und wenn das einmal angefangen hat, gibt es kein Halten mehr.« Sie sah ihn an. »Als Beweis wird sogar angeführt, dass er keine Kinder hat.«
Brunetti schloss die Augen. »Hat er sich mal an einen in der Bank herangemacht?«
»Nein. Niemals, jedenfalls haben meine Freunde nichts dergleichen gehört.« Sie überlegte kurz. »Wenn da wirklich etwas gewesen wäre, würden alle davon wissen. Sie ahnen ja nicht, wie konservativ diese Bankmenschen sind.«
Brunetti legte die Fingerspitzen zusammen und presste sie an seine Lippen. »Und seine Frau?«, fragte er.
»Reich, gesellschaftlich ambitioniert, allgemein unbeliebt.«
Dass diese Beschreibung auf die Frauen vieler Männer zutraf, mit denen er zu tun hatte, behielt Brunetti lieber für sich.
»Was die Leute reden, spricht eine deutliche Sprache, selbst wenn die ersten beiden Urteile nicht zutreffen sollten«, gestattete sie sich zu bemerken.
»Haben Sie mal mit ihr gesprochen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber Sie.«
»Richtig«, sagte Brunetti. »Und ich kann verstehen, warum die Leute sie nicht mögen.«
Signorina Elettra machte sich nicht die Mühe, nach einer Erklärung zu fragen.
»Vielleicht erkundigen wir uns bei den falschen Leuten nach ihm«, gab Brunetti schließlich der Versuchung nach, die ihn seit dem Gespräch mit Patta quälte.
»Sie meinen, wir sollten uns eher bei Strichjungen umhören als bei Bankangestellten?«
»Nein. Wir sollten die Fulgonis direkt befragen.« Er hatte es satt, Informationen aus dritter Hand reichten ihm nicht, mit Gerüchten konnte er sich nicht zufriedengeben. Er wollte die beiden direkt ansprechen und den Fall endlich abschließen.
Als würde er sich im Voraus dafür bestrafen, dass er Pattas ausdrückliche Ermahnung missachtete, die Fulgonis nicht mit Fragen zu behelligen, setzte sich Brunetti den Peitschenhieben der Sonne aus und ging zu Fuß zu ihrer Wohnung. Als er an dem Wandrelief mit dem Kamelführer vorbeikam, hätte er gern mit dem alten
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