Auf Umwegen ins Herz
Und tatsächlich: Seine Lippen streiften meine Wangen. Die Spur, die sie zogen, hinterließ ein heißes Prickeln auf meiner Haut. Mein Herz sprang fast aus dem Brustkorb, und die Schmetterlinge in meinem Bauch waren auch nicht ohne.
Ich konnte mich nicht erinnern, in meinem kurzen Leben je etwas so Wunderschönes empfunden zu haben! Plötzlich wollte ich unbedingt seine Lippen spüren, ich war so gespannt auf ihren Geschmack. Ob sie sich tatsächlich so zart und weich anfühlten, wie sie aussahen?
An seinem raschen Atem merkte ich, dass auch ihn die Situation nicht kalt ließ. Julian hielt noch immer meine Hände, spielte mit ihnen und streichelte meine Finger. Ich bemerkte sein leichtes Zittern, was mich wunderte, denn Nervosität hätte ich bei Julian nicht erwartet – nicht bei mir.
Ich sah über meine Schulter. Meine Augen hatten sich inzwischen an das schwache Licht gewöhnt, und aus dem Augenwinkel konnte ich sein Gesicht erkennen. Er sah mich an, so zärtlich, und seine Augen schienen zu leuchten. So kannte ich ihn nicht. Seine Lippen nahmen ihren Weg wieder auf und setzten ihre Wanderung dort fort, wo sie aufgehört hatten. Es wurde für mich unmöglich, meine Augen offen zu halten. Ich konnte nur hoffen, dass mein Körper jetzt nicht das Kommando aus der Hand geben würde und mich in eine Ohnmacht beförderte. Denn so fühlte es sich gerade in mir an.
Das Blut rauschte laut in meinen Ohren, als wir uns endlich küssten, vorsichtig, zärtlich, liebevoll …
Noch immer stand ich mit dem Rücken zu ihm. In dem Moment hätte ich mich so gerne zu ihm umgedreht, ihn in meinen Armen gehalten und mich an ihn gekuschelt. Doch der enge Spind ließ es nicht zu, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit dem Rücken zu ihm stehen zu bleiben.
Doch – eine Möglichkeit hatte ich: Ich lehnte mich gegen seine Brust, um ihm zumindest etwas näher zu sein. Als hätte Julian nur darauf gewartet, legte er einen Arm um meine Taille und zog mich noch enger an sich. Zärtlich streichelte er über meinen Bauch. Ganz vorsichtig, sodass ich die Berührungen seiner Fingerspitzen kaum wahrnahm, und doch so intensiv.
Ich musste leise seufzen, woraufhin er mich anlächelte. Mit der freien Hand strich er meinen Arm hinauf und ließ seine Finger über mein Schlüsselbein gleiten. Sämtliche Härchen stellten sich bei mir auf, und das Prickeln in meinem Inneren verteilte sich bis in den letzten Winkel meines Körpers. Ich glaube, noch nie in meinem Leben war ich so glücklich wie in dem Moment, als Julian seine Hand an meine Wange legte, mit dem Daumen über meine Lippen strich und mir tief in die Augen sah. Hin und weg von meinen ungewohnten Gefühlen lächelte ich ihn an und wollte ihn unbedingt noch einmal küssen.
„Hab ich dich!“, hörte ich Daniel rufen, der offensichtlich die Tür aufgerissen hatte, in der Hoffnung, hier jemanden aufzufinden. Grelles Licht blendete mich. Es war plötzlich laut um uns herum, und ich verlor die Orientierung. Gerade war ich noch an einem fernen Ort und teilte das unbeschreibliche Erlebnis meines ersten Kusses mit Julian. Ich schwankte, meine Knie waren butterweich.
Ich blinzelte in die Helligkeit, und ehe mir einfiel, dass ich mit Julian im Spind gelandet war, weil wir Verstecken spielten, spürte ich plötzlich, wie zwei Hände mich an einer Stelle packten, wo diese nicht hingehörten …
In den Blicken von Daniel und dem Rest der Truppe – so, wie es aussah, waren wir die Letzten im Versteck –, entdeckte ich die gleiche Verwirrtheit, die ich in dem Moment empfand.
„Seht ihr, so sehen richtige Möpse aus!“, hörte ich Julian hinter mir rufen, während er eben diese mit seinen Händen nach oben drückte. Dann lachte er kehlig.
Verdammt, wo waren unsere Betreuer?
Die anderen Jungs lösten sich aus ihrer Starre und fielen in sein Gelächter mit ein. Julian schubste mich unsanft aus dem Spind heraus, ich stolperte, immer noch geschockt, in Carolas Arme. Meinen Freundinnen stand in die Gesichter geschrieben, was sie von Julians Aktion hielten. Sie warfen ihm vernichtende Blicke zu, als er Daniel zur Krönung des Ganzen ein High-Five gab.
Doch das alles bekam ich nur mehr am Rande mit. Für mich brach gerade meine kleine schöne Welt zusammen. Der kurze Moment, als ich dachte, mein Traum würde sich doch noch erfüllen, der winzige Augenblick, in dem ich hoffte, ich hätte meinen Julian wieder gefunden und wir könnten zusammen sein, zerplatzte wie eine Seifenblase. Und die
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