Auf Umwegen ins Herz
mieden wir Mädels ihn. Auch die meisten Jungs gingen ihm aus dem Weg, nur einige scharten sich um ihn, was aber wahrscheinlich nur Selbstschutz war, denn keiner wollte von ihm gemobbt werden.
19. März 1998
Liebes Tagebuch!
Vielleicht ist Julian doch noch der Alte. Irgendwo in ihm drinnen. Klingt komisch, ist auch so. Jetzt fragst Du Dich sicher, wie ich auf die Idee komme, was?
Also heute hab ich ihn heimlich beobachtet: Ich hab mich in die Leseecke zurückgezogen und nur so getan, als würde ich ein Buch lesen. Und da ist mir was aufgefallen: nämlich, wie er zu Lena ist … Ich glaube, er dachte, er wäre unbeobachtet in dem Moment. Jedenfalls hat er sich zu seiner Schwester auf den Boden gekniet, die in ihrer Zeichenmappe gekritzelt hat. Und weißt Du was? Er war total lieb zu ihr! Ich dachte erst, ich seh nicht richtig – aber er hat sie ganz lieb angesehen! Dann hat er ihre Wange gestreichelt und ihr was ins Ohr geflüstert, woraufhin sie ihn kurz angelächelt hat. Lena hat gelächelt! Also … die beiden sind echt komisch. Wir wissen immer noch nicht, was vorgefallen ist. Es traut sich aber auch niemand, ihn oder Lena zu fragen.
Naja … jedenfalls wollte ich es Dich wissen lassen …
Ich sag Dir natürlich sofort Bescheid, sobald ich wieder was Neues dazu weiß.
Ich erinnerte mich, diese Augenblicke, in denen ich dachte, es schlummere noch mein Julian unter der Oberfläche, waren selten. Und manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich mir nur einbildete, dass er vorgab, jemand anderer zu sein, als er eigentlich war.
Doch dann kam der Tag, der für mich alles veränderte. Es war kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag. Wir hatten unser alljährliches Sommerfest im „Boot“ gefeiert. Es schüttete in Strömen, und so waren wir auf Indoor-Spiele beschränkt. Wir alberten herum und waren äußerst gut gelaunt, auch weil die Sommerferien kurz vor der Tür standen.
Als Nächstes stand Versteckenspielen auf dem Programm. Wir Älteren waren zuerst nicht besonders begeistert, doch als wir erfuhren, dass die Küken noch in eine Runde „Uno“ vertieft waren und nicht unterbrechen wollten, hatten wir dann doch Lust aufs Spiel – so konnten wir zumindest den Schwierigkeitsgrad erhöhen.
Ich wollte ein besonders raffiniertes Versteck suchen, eines, in dem ich bestimmt lange nicht gefunden werden würde. Mir lief die Zeit davon, und ich wusste, wenn ich jetzt nicht schnell einen Unterschlupf entdeckte, war es für mich zu spät. Ich schlich durch die Lagerräume, weiter in den hinteren Bereich, wo die Büros und Aufenthaltsräume der Betreuer waren.
Mein Blick fiel auf einen breiten Spind – das perfekte Versteck. Schnell sah ich mich noch einmal um, ob mich niemand beobachtete, während ich hinter meinem Rücken die Tür öffnete und rückwärts in den Schrank stieg. Die Tür hatte ich noch nicht ganz zugezogen, als ich spürte, dass ich nicht alleine war. Mein Herz klopfte hart gegen meinen Hals, und die Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf, als das Adrenalin durch meinen Körper rauschte.
Der Duft war für mich unverkennbar, und, auch wenn es schon länger her war, dass ich ihm so nahe gewesen war, wusste ich eindeutig, wer nicht einmal eine Handbreit hinter mir stand. So roch nur er … Julian. Ich konnte seinen Atem an meinem Nacken und am Ohrläppchen spüren, als er ein „Hier ist schon besetzt“ flüsterte. Sofort versteifte ich mich. Seine Nähe raubte mir den Verstand, und ich atmete seinen Duft ein, als würde ich ihn zum Überleben brauchen. Ich hätte aber auch gar keine andere Wahl gehabt, denn der gesamte Spind war voll davon.
Ich brachte kein Wort hervor und drehte stattdessen meinen Kopf leicht in seine Richtung. Meine Lippen waren plötzlich ganz nahe an seinen, und unsere Nasenspitzen berührten sich fast, so knapp stand er hinter mir.
Durch das schwache Licht, das durch den schmalen Spalt der Tür herein fiel, konnte ich ihn kaum sehen, erkannte aber, dass er mich nach wie vor musterte. Ohne Vorwarnung tastete Julian nach meiner Hand, streichelte zärtlich über meine Finger und spielte mit ihnen, hielt sie fest – zum Glück, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde ich schweben.
In dem schwachen Licht konnte ich ahnen, dass er seinen Kopf neigte. Ich war komplett perplex – wollte er mich jetzt tatsächlich küssen? Ich hatte keine Ahnung, woher ich meinen Mut nahm, aber ich drehte mich ihm ein klein wenig entgegen, zumindest soweit es der Spind zuließ.
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