Auf Umwegen ins Herz
brachten mich zum schmunzeln. Ich runzelte meine Stirn über die pubertären Zickereien und konnte heute das Handeln meiner Mutter nachvollziehen, während ich mich damals von ihr unverstanden fühlte.
Während ich eine Tiefkühl-Pizza verdrückte und dazu eine Cola trank, schmökerte ich in meinem detailgetreuen Bericht über das Take That-Konzert. Ich war mit einer Schulkollegin dort, deren Eltern sich die Karte für ihre Tochter problemlos leisten konnten und sich auch bereit erklärten, uns zum Konzert ins knapp zweihundert Kilometer entfernte Wien zu fahren. Für meine Mutter war das die Grundvoraussetzung, damit sie mich zum Konzert ließ.
Wir waren beide riesige Take That-Fans, unsere Zimmer waren zugepflastert mit unzähligen Postern der Boyband, und unser CD-Player spielte ihre Musik in Dauerschleife. Als damals im Radio bekannt gegeben wurde, dass sie auf ihrer Tournee auch in Wien haltmachen würden, flehte ich meine Mom an, mir eine Karte zu kaufen. Finanziell war das damals für meine Mutter ein Luxus sondergleichen. Ich versprach ihr, alles wieder zurückzuzahlen, und ich hielt auch mein Versprechen.
Frau Behring, die alte Dame einen Stock über unserer Wohnung, ging nur noch selten außer Haus, da die vielen Stufen in den dritten Stock für sie kaum mehr zu bewältigen waren. Ihre einzige Tochter kam nur wenig zu Besuch, und so bot ich mich an, zweimal in der Woche für sie einkaufen zu gehen. Sie belohnte mich jedes Mal mit einem Zwanzig-Schilling-Schein, was heute nicht einmal ein Euro fünfzig ist. Gut, es war nicht viel, was ich verdiente, doch das Geld läpperte sich zusammen, und irgendwann hatte ich meine Schulden bei meiner Mutter beglichen. Und die liebe Frau Behring war mir unendlich dankbar für meine Hilfe.
Als ich mir als Dessert noch einen Schokoriegel genehmigte, fiel mir wieder die Unterhaltung mit Julian im Park ein, als wir über seinen Beruf sprachen. Von wegen, soziale Hilfe wäre nicht mein Fall – ich hab es damals richtig gern getan! Ich musste lächeln, doch dieses wurde gleich von einem Gähnen verdrängt. Ein Blick auf die Uhr ließ mich aufspringen. Schnell machte ich mich fertig fürs Bett, nahm aber die noch ungelesenen Lebensabschnitte meiner Teenagerzeit mit ins Schlafzimmer und konnte es nicht lassen, dort weiterzulesen, wo ich unterbrochen hatte.
Als ich dreizehn war, fehlte Julian einige Wochen im „Boot“. Meine Freundinnen und ich, allesamt heimliche Verehrerinnen, hatten schon Angst, er würde gar nicht mehr auftauchen. Auch Lena war von einem Tag auf den anderen weg, und die wildesten Gerüchte machten die Runde.
7. November 1997
Liebes Tagebuch!
Jetzt sind Julian und seine Schwester schon über eine Woche nicht mehr im „Boot“ gewesen. Keiner von uns weiß, was der Grund dafür ist.
Doris hat behauptet, sein Vater ist von seiner Firma nach Vietnam versetzt worden und sie sind mitgegangen. Was Daniel für schräge Ideen hatte, will ich Dir gar nicht erst sagen!
Ich will mir gar nicht vorstellen, dass ich ihn womöglich nie mehr wiedersehe … Er hätte sich doch verabschiedet, wenn sie wieder weggezogen wären, oder? Oh Mann, ich vermisse ihn so sehr! Ich vermisse es, ihm beim Fußballspielen zuzusehen. Ich vermisse seine blauen Augen, mit denen er mir zuzwinkert, wenn er ein Tor geschossen hat. Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass er bald wieder zurückkommt!
17. November 1997
Liebes Tagebuch!
Er ist wieder da! Aber irgendwie auch nicht. Keine Ahnung, was mit ihm geschehen ist, aber das ist nicht mehr mein Julian.
Er schreit alle an, ist total aggressiv zu jedem. Heute hat er sogar Carola umgestoßen, nur weil sie an ihm vorbei gehen wollte und ihn unabsichtlich gestreift hat! Später dann hat er sich mit Daniel geprügelt, weil er beim Mensch-Ärgere-dich-nicht verloren hat.
Kannst Du Dir das vorstellen? Ich auch nicht … Ich bin total schockiert, so was hätte ich Julian nicht zugetraut.
Seine Schwester ist auch wieder da, aber sie sitzt nur alleine in einer Ecke oder bei einem unserer Betreuer und redet kaum. Echt, die beiden sind total verändert.
Das soll mal einer verstehen! Ich hoffe echt, dass die beiden wieder normal werden.
Sie wurden es aber nicht mehr. Lena zog sich immer weiter zurück, kapselte sich wie eine Schnecke ein und wurde zum Einzelgänger. Julian hingegen blieb laut und aggressiv und drängte sich wie ein aufgeplusterter Hahn in den Mittelpunkt. Dazu waren ihm alle Mittel recht, und innerhalb kürzester Zeit
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