Auf Umwegen ins Herz
Realität traf mich wie ein Peitschenschlag ins Gesicht.
Geschockt starrte ich noch immer in Richtung Flur, in dem Julian und die anderen Jungs verschwunden waren. Scham und Hilflosigkeit krochen in mir hoch. Wie üblich hatte Julian eine Meisterleistung erbracht – mit voller Gewalt hatte er es geschafft, eine Person zu demütigen und zur Lachnummer zu machen. Dass es diesmal mich getroffen hatte, nach allem, was nur wenige Sekunden zuvor im Spind in geheimer Zweisamkeit passiert war, tat doppelt weh. Diese Erkenntnis ließ mich noch einmal das Blut in den Ohren rauschen hören. Aber diesmal war es kein angenehmes Gefühl, das es begleitete.
Mir wurde speiübel, und alles um mich begann, sich zu drehen. Meine Freundinnen redeten auf mich ein, streichelten mir den Rücken, doch ich nahm nichts mehr wahr. Der Boden unter meinen Füßen hatte sich aufgelöst, und ich fiel. Weinend war ich zusammengebrochen.
Kapitel 7
Wer hat an der Uhr gedreht …?
Ich wollte ihn nie wiedersehen, ihm nie wieder in sein Gesicht schauen müssen, in diese Augen, auf diese Lippen … Ich hatte nur gehofft, meine Freundinnen würden mich alleine lassen mit meinem Schmerz. Ihr Mitleid half mir jetzt auch nicht weiter.
Ich weiß nicht, wie lange ich so liegengeblieben war. Mein Herz war schwer wie Stein. Ich weinte leise vor mich hin, hatte irgendwann Zeit und Ort vergessen, aber das alles war jetzt nicht mehr wichtig für mich. Ich konnte immer noch seine Lippen auf den meinen fühlen, hatte seinen Duft in meiner Nase, und am liebsten wollte ich ihn fest an mich drücken – als wäre das alles nie geschehen. Doch ich wusste, dass ich die Realität nicht verdrängen konnte. Und mein Leben musste irgendwie weitergehen.
Fühlte es sich tatsächlich so an, wenn man liebte? Wenn einem das Herz gebrochen wurde? Oder war es „nur“ die Freundschaft, die er mit seinem arroganten Verhalten mit Füßen getreten hatte? So oder so … es tat furchtbar weh.
Abgesehen davon fühlte ich mich vor unseren Freunden blamiert. Dieses Gefühl brannte tief in mir, und das Atmen fiel mir schwer. Ich lag auf dem Boden, zusammengerollt, hielt den Kopf mit meinen Armen umschlungen und wiegte mich leise schluchzend, in der Hoffnung, etwas Trost zu finden.
Am liebsten wollte ich so liegen bleiben, für immer und ewig. Doch ein Surren machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich hätte zwar unmöglich die Kraft gehabt, einen Arm zu heben und die lästige Fliege zu verscheuchen. Dennoch war ich ihr irgendwie auch dankbar, denn so wusste ich, dass es ein Leben außerhalb gab, das zu mir durchdrang. So wusste ich, ich war noch am Leben, auch wenn ich mich gerade alles andere als lebendig fühlte.
Das nervende Geräusch hörte nicht auf – das Insekt musste direkt über mir seine Runden ziehen. Eigenartigerweise war außer dem Surren sonst nichts zu hören – was mich verwirrte. Normalerweise herrschte immer ein gewisser Lärmpegel im „Boot“. Kinder liefen die Gänge auf und ab, schrien und lachten. Doch jetzt konnte ich nichts dergleichen hören. Wie lange ich wohl schon so da lag? Und wo waren meine Freunde? Holten sie die Betreuer zu Hilfe? Aber … das dauerte doch nicht so lange …? Irgendwie war ich irritiert, dass sie mich in meinem Zustand einfach so hatten liegen lassen …
Mühsam blinzelte ich und versuchte, mich zu orientieren. Die Realität traf mich hammerhart. Ich lag auf dem Boden meines Schlafzimmers, die Decke war noch zur Hälfte auf dem Bett, von dem ich runtergefallen sein musste. Langsam setzte ich mich auf, was gar nicht so einfach war, da mein ganzer Körper schmerzte. Das Tagebuch, welches ich zuletzt gelesen hatte, lag offen und leider etwas zerknittert dort, wo eigentlich das Kissen sein sollte. Sah so aus, als hätte ich das Buch als solches im Schlaf missbraucht.
Ich war wieder im Hier und Jetzt, was mich … irgendwie beruhigte. Andererseits lichtete sich der Nebel in meinem Kopf nur langsam. Unglaublich, dass ich so realistisch geträumt hatte und vor allem, dass sich dabei Zeit und Ort aufgelöst hatten und ich in meine Jugend zurück katapultiert worden war.
Da war plötzlich wieder das Surren, und verwirrt rieb ich meine Augen, als mit einem Mal mein Herz wie wild in mir hämmerte. Ich warf schnell einen Blick auf den Radiowecker auf meinem Nachttisch und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Im Hinauslaufen griff ich noch schnell nach meinem Bademantel, den ich auf einem Haken neben der Tür hängen
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