Auf Umwegen ins Herz
wieder vor meinem inneren Auge ablaufen lassen. Ich brauchte die Augen nicht zu schließen, um zu sehen, wie er mich dabei fixierte. Doch ich war einfach zu verunsichert, was die Deutung seiner Emotionen anging. Denn ich war wohl keine Meisterin darin.
Isa wartete gespannt auf eine Reaktion. „Hörte es sich eher danach an, als ob ihm sein ‚Spielzeug‘ zum Verarschen abhandengekommen ist und ihm nun langweilig ist, oder … klang es eher danach, als ob er seine Liebe verloren hat?“
Das Wort „Liebe“ ließ mich aufhorchen. Hatte er damals tatsächlich die gleichen Gefühle wie ich für ihn empfunden? Ich konnte mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Gut, Liebe war vielleicht etwas übertrieben, es war einfach eine Schwärmerei, die sowieso mit der Zeit abflaute, da sich sein Verhalten um hundertachtzig Grad geändert hatte. Andererseits …
„Ich weiß es nicht, Isa.“ Ratlos hob ich meine Schultern. „Sein Tonfall war eigentlich … herablassend. Aber sein Blick … der sagte etwas ganz anderes.“
Es hatte so viel Schmerz darin gelegen, dass ich mich deshalb die halbe Nacht von einer Seite zur anderen gewälzt hatte. Ich kannte diesen Blick, ich hatte ihn schon einmal gesehen.
Es war am 4. Juli 1998 gewesen. Bei meiner Geburtstagsparty im „Boot“, eine knappe Woche nach unserem ersten Kuss. An meinem letzten Tag im Jugendzentrum. Der Tag, an dem ich Julian das letzte Mal gesehen hatte.
Julian hatte darauf geachtet, mir nicht zu nahe zu kommen, und ich hatte versucht, ihn zu ignorieren. Doch hin und wieder schielte ich verstohlen in seine Richtung, und jedes Mal sah ich in dunkles Indigoblau, das mich von der anderen Seite des Raumes gequält gemustert hatte.
Genau diesen Blick hatte er mir gestern vom Auto aus zugeworfen.
Isa schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen und murmelte etwas von wegen „Männer …!“, bevor sie sich vom Tisch erhob und wieder in ihr Büro verschwand.
Sauer blickte ich ihr hinterher. Ich hatte gehofft, dass sie mir bei der Entschlüsselung seiner Worte behilflich sein würde, doch anscheinend lag zu wenig Anreiz darin. Hätte ich ihr von wildem Sex auf der Rückbank erzählt, säße sie wahrscheinlich noch in einer Stunde auf der Tischkante und würde neugierig jedes schmutzige Detail des kleinen Abenteuers wissen wollen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr: Schon fast Feierabend, und ich hatte kaum etwas ausgerichtet. Während ich meine Tasse Kaffee in einem Zug leerte, nahm ich mir vor, die restliche Zeit mit voller Konzentration meiner Arbeit nachzugehen.
Ich widmete mich also wieder den neusten Modeherbsttrends in Ocker, Taupe und Rostrot und schaffte es tatsächlich, komplett darin zu versinken. Für genau elf Minuten. Dann vibrierte mein Handy. Ein Blick auf das Display löste ein Knurren in meiner Kehle aus. Julian.
„Wieso? Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, schnauzte ich mein Telefon an, bevor ich abhob und ein genervtes „Was gibt’s?“ hineinbellte.
„Hör mal, Jana, ich muss dringend mir dir reden! Ich hole dich heute nach der Arbeit ab. Passt dir halb sechs?“
Na, jetzt schlägt’s aber dreizehn! „Nein, das passt mir ganz und gar nicht! Ich hab heute Abend schon was vor.“
„Okay. Und danach?“
„Hör mal, ich hab keine Ahnung, was du willst.“ Meine Stimme klang etwas lauter. „Ich stecke gerade in einem wichtigen Projekt, das ich noch heute abschließen möchte, und hab absolut keine Zeit für deine … Spielchen. Was hältst du davon, wenn du mir eine Nachricht schickst, wann es bei dir geht, dann schau ich daheim in meinen Kalender und sag dir anschließend irgendwann Bescheid!?“
Okay, das, woran ich gerade arbeitete, war nicht sooo wichtig, doch das ging ihn gar nichts an. Was ich heute noch vorhatte, musste ich mir auch erst überlegen, aber mir fiel bestimmt gleich etwas ein.
Julian schwieg eine Weile, wahrscheinlich, um über meine Worte nachzudenken, denn dann lenkte er ein: „Gut, ich melde mich bei dir. Dann … noch einen schönen Tag und … tut mir leid, dich bei deinem wichtigen Projekt unterbrochen zu haben.“
Schwang da etwa Hohn in seiner Stimme mit? Das war ja die Höhe! Hallo, nur weil ich Grafikerin war, war meine Arbeit nicht weniger wert als seine! Wortlos beendete ich das Gespräch und schleuderte das Telefon etwas zu heftig auf den Schreibtisch zurück. Das war’s dann wohl mit meiner Konzentration. Ich schrie meine Wut heraus und stampfte wie ein kleines Kind auf den
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