Auf und davon
das Gefühl, als schauten alle sie
an und lachten sie aus, weil sie nicht richtig lesen konnte. Julia haßte die
Nachhilfestunden im Lesen, aber an diesem Tag gab es einen kleinen Trost. An
diesem Tag hatte sie ein Geheimnis, ein herrliches, wärmendes Geheimnis, das
eingewickelt in einer Plastiktüte in ihrem Pult lag.
In der Pause holte Julia das Geheimnis
und trug es noch etwas unsicher auf den Schulhof. Ungelenk stand sie da und
wußte nicht, wie sie es anfangen sollte. Jetzt, wo der große Augenblick gekommen
war, war sie voller Hemmungen.
Jennifer rannte an ihr vorbei, dahinter
kam Sharon. Sie spielten irgendein Spiel. Julia griff in ihre Tüte und holte
eines der kleinen Päckchen heraus, von denen etwa ein Dutzend in der Tüte
lagen. Sie stellte sich Sharon in den Weg und hielt ihr das Päckchen hin. „Willst
du?“ hörte sie sich fragen.
Sharon blieb stehen und schaute auf den
Schokoriegel in Julias Hand. „Für mich?“ fragte sie argwöhnisch zurück.
„Ja — du kannst einen haben, wenn du
willst. Ich hab jede Menge davon.“
Sharon schaute in Julias Tüte und sah,
daß tatsächlich ein ganzer Berg Schokoriegel darin war.
„Woher hast du die denn alle?“
Auf diese Frage war Julia vorbereitet. „Ich
hatte am Samstag Geburtstag. Mein Onkel hat mir Geld geschenkt.“ Sowohl der
Geburtstag als auch der Onkel waren natürlich erfunden.
Die Mädchen drängten sich um Sharon,
die Julias Geschichte zwischen Bissen von dem Schokoriegel wiederholte.
Natalie, ein Mädchen mit kantigen Gesichtszügen und Augen für alles, was von
Vorteil für sie sein könnte, trennte sich von der Gruppe und ging frech auf
Julia zu.
„Ich hab gehört, du hattest Geburtstag?“
„Ja. Willst du einen?“
„Danke, Julia. Ich mag Schokolade.“
Dann rief Jennifer herüber, so, als sei
es das Selbstverständlichste von der Welt, und fragte, ob Julia mitspielen
wolle. Eine Minute später verspeisten fast sämtliche Mädchen aus der 6. Klasse
einen von Julias Schokoriegeln.
Nathan stand allein an der
Schulhofmauer und beobachtete alles voller Verachtung. Dumme Kuh, dachte er,
vergeudet ihr Geld an diese Bande. Morgen wollen sie nichts mehr von ihr
wissen, sie wird es ja sehen. Morgen sind sie wieder gemein zu ihr.
Doch am nächsten Tag gab es wieder
Geschenke. Diesmal hatte Julia wirklich zugelangt und kleine Etuis mit bunten
Filzstiften gekauft. Die Mädchen freuten sich. Wieder durfte Julia in der Pause
mitspielen, und was noch besser war: Als es zur Turnstunde ging, hatte Julia
eine Partnerin. Ihre Partnerin war zwar nur Natalie, und deren Motive lagen
irgendwo in der Richtung von „Je näher ich ihr bin, desto mehr fällt für mich
ab.“ Julia war sich sehr wohl bewußt, daß Natalie sie nur unterhakte, weil sie
sich etwas davon versprach, aber es war immerhin ein Anfang. Julia hatte seit
ewigen Zeiten keine Partnerin für den Turnunterricht gehabt.
Nathan beobachtete Julias Erfolge mit
gemischten Gefühlen. Er wollte sein Geld nicht für andere Leute ausgeben, er
wollte alles für sich behalten. Außerdem hatte er kein besonderes Interesse an
Freunden. Freunde waren Quatsch. Ein Partner wäre allerdings nicht schlecht
gewesen...
Er blieb standhaft bis zum vierten Tag.
Am vierten Tag brachte Julia jedem der
Mädchen ein Päckchen Kaugummi mit. Natalie schenkte sie außerdem noch 50 Pence.
Auch Nathan hatte eingekauft. Auf dem
Weg zur Schule hatte er vier Tüten Chips erstanden, die er mit Paul, Wayne und
Sanjay teilte. Die Jungen waren völlig überrascht. Nathan hatte nie Geld bei
sich, und soweit sie wußten, hatte er in seinem ganzen Leben noch nichts
hergeschenkt. Ihr Erstaunen hinderte sie jedoch nicht daran, seine plötzliche
Großzügigkeit anzunehmen.
Am Tag darauf, einem Freitag, gab es
weitere Geschenke. Nathan stand jetzt im Mittelpunkt der Jungengruppe, und
Julia stand im Mittelpunkt der Mädchengruppe. Mrs. Henrey beobachtete die
veränderten Verhältnisse mit wachsendem Argwohn. Irgend etwas stimmte da nicht.
Die am wenigsten beliebten Kinder der Klasse sollten plötzlich so gefragt sein?
Dafür mußte es einen Grund geben. Mrs. Henrey beschloß, Pauline zu fragen.
Pauline war ein argloses Mädchen, das mit größter Wahrscheinlichkeit die
Wahrheit sagen würde. Nach der Morgenversammlung sprach sie Pauline an.
„Es freut mich, daß ihr jetzt alle so
nett zu der armen Julia seid“, begann Mrs. Henrey.
„Oh, sie hat uns allen Geschenke
mitgebracht“, antwortete Pauline.
„Tatsächlich?
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