Auf und davon
Süßigkeiten und so was?“
„Ja — und Filzstifte.“
„Du meinst, Julia hat euch die bunten
Stifte geschenkt? Ihr habt sie euch nicht selber gekauft?“
„Nein, Mrs. Henrey. Julia hat Geld
geschenkt bekommen.“
„Ach so.“ Mrs. Henrey dachte einen
Augenblick lang nach. „Pauline — weißt du zufällig, ob Nathan auch Geld
geschenkt bekommen hat?“
„Ich glaube, ja. Ich weiß es nicht
genau, aber ich glaube, ja.“ Mrs. Henrey seufzte gequält. Jetzt würde sie der
Sache nachgehen müssen. Jetzt würde die mühsame Fragerei beginnen, das
Ausquetschen und Anhören von ellenlangen Lügen, und schließlich würde sie die
Kinder als elende kleine Diebe entlarven müssen. Beschämend für die kleinen
Bälger und vor allem zeitraubend.
„Fehlt irgend jemand Geld?“ fragte sie
ihre Kollegen im Lehrerzimmer. Aber keiner vermißte etwas. Selbst die
Essensabrechnung stimmte in dieser Woche ausnahmsweise.
„Sie denken bestimmt an Julia Winter
und Nathan Browne, nehme ich an“, sagte Miss Phillips, die in der ersten Klasse
unterrichtete. „Ich habe gesehen, wie sie gestern auf dem Schulhof Geld
herumzeigten. Ich wollte es Ihnen eigentlich gleich sagen, habe es aber wieder
vergessen. Würde mich mal interessieren, woher sie es haben.“
„Keine Ahnung“, erwiderte Mrs. Henrey
düster, „aber ich werd’s wohl herausfinden müssen.“
Gleich nach der Mittagspause nahm sie
sich Julia vor.
„Wie ich gehört habe, bist du
anscheinend zu Geld gekommen, Julia.“
Immer noch stolz und glücklich über
ihren Erfolg, war Julia zunächst völlig unbefangen. „Ja, Mrs. Henrey, ich hatte
Geburtstag.“
„Wann denn?“
„Letzten Samstag.“
„Aber Julia, du hast doch im April
Geburtstag, und jetzt haben wir Juni — fast schon Juli.“
Mit Julias Freude war es mit einem
Schlag vorbei. Die ersten Anzeichen der Katastrophe warfen ihre Schatten auf
ihre im Moment noch so helle Welt. „Ich hatte letzten Samstag, Mrs. Henrey.“
„Nein, Julia, du hast am — Augenblick —
am 15. April Geburtstag. So steht es im Klassenbuch.“
„Dann muß im Klassenbuch ein Fehler
sein.“
„Ich kann jederzeit deine Mutter
fragen.“
Julia sagte nichts. Was hätte sie dazu
auch sagen sollen?
„Wo hast du das viele Geld also her?“
Julia preßte die Lippen zusammen. Das
tat man, wenn man in der Klemme saß. Man hielt den Mund und weigerte sich,
etwas zu verraten.
„Mrs. Henrey, Nathan hat auch Geld“,
rief Paul. „Eine ganze Menge.“
„Ja, eine ganze Menge“, stimmten ein
paar weitere Verräter ein. Jetzt hieß es, sich auf die Seite der Engel zu
schlagen. „Nathan?“ fragte Mrs. Henrey.
Nathan antwortete nicht, aber auf
seinem Gesicht spiegelte sich das Durcheinander von Gefühlen, die sich in ihm
zusammenbrauten. Schmerz und Wut jagten sich. Schmerz darüber, daß seine neuen
Freunde ihn so schnell im Stich ließen, Wut auf Julia, weil sie die
Klassenkameraden falsch eingeschätzt hatte.
Nathan und Julia hatten die ganze Woche
über nicht miteinander gesprochen, außer in dem kurzen Augenblick, als Julia
ihre Schulden an ihn zurückzahlte. Doch Nathan hatte Julia ganz genau
beobachtet und an ihrem Verhalten abzulesen versucht, was man gefahrlos tun
könnte. Und jetzt, wo sich das, was sie getan hatte, als falsch herausgestellt
hatte, fühlte sich Nathan verraten und im Stich gelassen. Er hatte angenommen,
daß Julia sich in solchen Dingen auskannte. Wozu war sie denn nütze, wenn sie
sich in so praktischen Dingen wie der Frage, wie man Geld sicher investieren
konnte, nicht auskannte?
„Steh auf, Nathan“, sagte Mrs. Henrey.
Nathan stand auf.
„Woher hast du das Geld? Du hast ja
wohl nicht auch Geburtstag gehabt, oder? Dein Geburtstag ist erst im August.“
Schweigen. Nathans Gesicht war nur noch eine beleidigte Maske.
„Also — wieviel Geld hast du?“ Die
Borsten auf Mrs. Henreys Muttermal bewegten sich auf und ab, wenn sie redete.
Nathan konzentrierte sich auf die Borsten.
„Ich habe einen Fünfpfundschein bei ihm
gesehen“, erzählte Sanjay.
„Nathan?“
Keine Antwort, keinerlei Reaktion. Nach
einem Blick auf die verstockten Gesichter der beiden Kinder war Mrs. Henrey
klar, daß sie ohne Hilfe nichts aus ihnen herausbekommen würde. War es möglich,
daß sie gemeinsam etwas ausgeheckt hatten? Es erschien unwahrscheinlich, doch
ausgeschlossen war es nicht. Mrs. Henrey beschloß, die ganze Geschichte an den
Direktor weiterzugeben. Sie ließ ihm über Paul eine Nachricht zukommen, in
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