Auf und davon
es war nicht nett, verdächtigt zu werden.
Julia warf sich ins Wasser. Sie machte
immer nur jeweils drei oder vier Züge hintereinander mit langen Pausen
dazwischen, während der sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Nathan wurde
es bald langweilig, ihr zuzuschauen, und so wandte er seine Aufmerksamkeit den
anderen Leuten am Strand zu. Es war Anfang Juli, und obwohl die Schulferien
noch nicht begonnen hatten, machten viele Familien mit kleinen Kindern schon
Urlaub, so daß der Strand ziemlich voll war.
Hinter Nathan kam gerade eine Frau mit
zwei Jungen an. Die Jungen waren jünger als er, ungefähr sechs und sieben Jahre
alt. Die beiden hatten einen Ball dabei, und während Nathan sie beobachtete,
dachte er noch, daß sie für ihr Alter schon ziemlich hart werfen konnten.
Plötzlich geriet der Ball außer
Kontrolle. Nathan sah ihn durch das gesprungene Brillenglas auf sich zu kommen
und duckte sich. Doch zu spät. Der Ball traf ihn mitten ins Gesicht und warf
ihn fast um. Er konnte sich zwar auf den Beinen halten, doch die Brille flog
davon. Der kleinere der Jungen kam angelaufen, um seinen Ball zurückzuholen,
und setzte dabei eine mittlere Kiesellawine in Bewegung. Nathans Brille wurde
unter den Steinen begraben, und nachdem er sie wieder ausgebuddelt hatte, mußte
er feststellen, daß das vorher noch heile Glas jetzt total zersplittert war. Es
war unmöglich, durch dieses Glas noch irgend etwas zu sehen. Er versuchte,
wenigstens durch das gesprungene Glas etwas zu erkennen, doch auf diesem Auge
sah er ohnehin schlechter. Die Brille nützte ihm jetzt nichts mehr, er war ohne
sie besser dran.
Die Frau kam auf ihn zu. Als sie nah
genug heran war, sah Nathan, daß sie ganz außer sich war. „Ist sie kaputt?“
fragte sie. „Meine Güte, das tut mir ja so leid.“
Sie war nett. Ihre Frisur und die
Kleidung waren sehr elegant, und sie redete wie die Nachrichtensprecher im
Fernsehen.
„Ich habe es Oliver gesagt. Immer und
immer wieder habe ich ihn ermahnt, daß er aufpassen muß. Seine Zielsicherheit
ist einfach noch nicht so gut. Laß mich die Brille einmal sehen. Meine Güte,
ich fürchte, die kannst du vergessen. Ich werde für den Schaden
selbstverständlich aufkommen. Wohnst du hier in Brighton?“
„Ja“, antwortete Nathan kläglich.
„Das ist gut. Dann kannst du mir deine
Adresse geben, und ich komme vorbei und rede mit deiner Mutter.“
„Ich wollte sagen, ich wohne in London“,
verbesserte sich Nathan.
Die Frau schaute ihn verwundert an.
„Was ich eigentlich sagen wollte“,
stammelte Nathan, „ich bin zur Zeit bei meiner Tante in Brighton. In Ferien.“
„Auch gut, dann kann ich deine Tante
aufsuchen.“
„Nicht nötig“, sagte Nathan, „sie war
schon vorher kaputt.“
„Bist du sicher?“
„Ja, wir wollten sie heute zum
Reparieren bringen. Es ist okay, wirklich.“
Die Frau schien nicht überzeugt. „Hör
zu“, sagte sie, „ich gebe dir meine Adresse. Du gibst sie weiter an deine
Tante, und sie kann mir dann die Rechnung schicken. Ich möchte mich wenigstens
an den Kosten beteiligen.“
„Ich glaube, das zahlt sowieso die
Krankenkasse“, meinte Nathan, der vorher noch nie über solche Sachen nachgedacht
hatte. „Ich glaube, niemand muß dafür bezahlen.“
„Trotzdem — gib deiner Tante auf jeden
Fall meine Adresse. Vergiß es nicht.“
Sie drückte ihm eine Visitenkarte in
die Hand und ging mit den beiden kleinen Jungen davon.
Julia kam aus dem Wasser. Nathan sah
die schlaksige Gestalt nur verschwommen, bis sie ganz nah heran war. In
Gedanken verglich er sie mit einem besonders langen Stück Seetang, was nicht
sehr nett von ihm war.
„Du siehst ganz anders aus ohne deine
Brille“, stellte Julia fest.
Sie ist kaputt. Ich weiß nicht, was ich
ohne sie machen soll. Ich kann nicht richtig sehen. In der Nähe schon, aber
alles, was weiter weg ist, ist ganz verschwommen.“
„Du gewöhnst dich daran“, meinte Julia
mitleidlos. „Brrr, ist mir kalt. Wenn ich bloß ein Handtuch hätte... Du siehst
wirklich ganz anders aus, Nathan.“
Langsam wurde es Abend. Julia trocknete
sich mit ihrem alten, zerrissenen Kleid ab. Die auffrischende Brise vom Meer
her war recht kühl, wenn man nur in einem nassen Bikini am Strand saß. Sie wickelte
sich in ihren Anorak und brachte dann das Thema zur Sprache, das sie beide
bisher vermieden hatten. „Wo schlafen wir heute?“
Nathan schaute sich um. „Keine Ahnung“,
sagte er mißmutig. „Ich sehe nichts. Ich sehe nichts, wo
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