Auf und davon
Nathan.
Er sprang raus und lief hügelabwärts,
wo die Bäume und Büsche am dichtesten standen. Überrascht stand der Besitzer
des Wohnwagens da und sah mit offenem Mund zu, wie Nathan davonrannte. Als
Julia aus dem Wagen sprang, machte er einen Schritt auf sie zu — doch zu spät,
um sie zu fassen.
„Was ist los, Schatz?“ fragte seine
Frau, die erst jetzt aus dem Auto stieg.
„Wenn ich das wüßte.“ Der Mann kratzte
sich am Kopf. „Sieht so aus, als hätten wir blinde Passagiere gehabt. Schau, da
laufen sie.“
„Du liebe Güte! Lauf ihnen nach,
schnell!“
„In meinem Alter? Du willst doch nicht,
daß ich einen Herzanfall kriege, oder?“
„Dann hol die Polizei. Hol einen der
anderen Camper. Da drüben steht ein junger Mann. Er könnte sie noch kriegen.“
Der Mann mit der Glatze zuckte mit den Schultern. „Ach, laß gut sein. Die sind doch
schon über alle Berge. Schauen wir lieber mal, welchen Schaden sie angerichtet
haben.“
Nathan und Julia hatten längst die
schützenden Büsche erreicht. Wie durch ein Wunder war Julia nicht gegen einen
Baum gelaufen, hatte sich nicht den Knöchel verstaucht, war über keinen Stein
gestolpert und hatte sich auch nichts gebrochen. Sie war heil angekommen und
sogar noch ziemlich dicht hinter Nathan, wenn auch von der Anstrengung völlig
fertig. Jetzt lag sie zwischen zwei Büschen, japste und keuchte, und jeder
Atemzug hörte sich an wie das Pfeifen einer Lokomotive.
„Schnauf leiser“, sagte Nathan.
„Kann nicht.“
„Dann komm, wir gehen ein Stück weiter.“
„Ich kann nicht“, jammerte Julia. „Warte
auf mich, Nathan.“ Sie sah ihn nicht, nur das Rascheln in den Büschen sagte
ihr, in welche Richtung er gegangen war. In Panik kämpfte sich Julia zu dem
Rascheln durch. Ein Zweig zerkratzte ihr das Gesicht, und es gab ein häßliches
Geräusch, als eine Tasche des Regenmantels heruntergerissen wurde.
Plötzlich fiel der Boden steil ab.
Julia ging trotzdem weiter und begann zu rutschen. Sie schlitterte ein kurzes
Stück, wobei sie Erde und lose Steine mitriß. Dann fiel sie auf den Hintern und
rutsche auf ihm weiter. Sie wurde immer schneller. Verzweifelt versuchte sie,
die Rutschpartie zu beenden, indem sie nach Zweigen und Grasbüscheln griff.
Vergeblich. Es tat ziemlich weh.
Mein Hosenboden muß bald Feuer fangen,
dachte sie. Sie wollte schreien, tat es aber nicht. Wenigstens soviel
Geistesgegenwart besaß sie noch.
Der Abhang lief aus, und Julias
Rutschpartie nahm ein Ende. Jetzt konnte sie sich umsehen. Sie lag lang
ausgestreckt auf einer kleinen Grasfläche, und Nathan stand ein Stück rechts
von ihr bei einem Busch. Vor ihr war alles graubraun: graubraune Steine,
graubraune Erde, graubraunes Wasser.
„Nathan“, flüsterte Julia, „schau, wir
sind wieder am Meer.“
10.
Ein gefährlicher
Augenblick
„Das ist aber kein schönes Meer“, sagte
Julia enttäuscht.
„Macht nichts“, entgegnete Nathan. „Komm,
wir müssen weiter von diesem Campingplatz weg. Hast du deine Tasche?“
Aber die hatte sie natürlich verloren,
als sie den Abhang runtergerutscht war und nur noch daran gedacht hatte, wie
sie sich vor einem möglichen Sturz in den Abgrund retten könnte. „Macht nichts“,
sagte Nathan noch einmal, „es sind ja nur deine Mädchensachen drin. Jetzt bist
du ein Junge.“
„Und was ist mit meiner sauberen
Unterwäsche?“
„Du kannst dir wieder welche kaufen.
Und den blöden Regenmantel kannst du jetzt auch ausziehen. In dem Ding braucht
dich niemand sehen. Versteck ihn im Gebüsch.“
„Es ist nicht gerade warm hier“,
stellte Julia bibbernd fest. Eine kräftige Brise wehte vom Meer her, und ihr
T-Shirt hatte kurze Ärmel. „Ich such lieber meine Tasche, Nathan. Da ist auch
der Anorak drin.“
„Nein, komm jetzt. Vielleicht suchen
sie schon nach uns. Wir gehen einfach immer am Strand entlang, da muß bald ein
Geschäft kommen, wo wir einen neuen Anorak kaufen können. Einen besseren, Jule,
einen mit einer Kapuze.“
Aufgemuntert durch die Aussicht auf
einen neuen Anorak mit Kapuze stolperte Julia hinter Nathan her zum Strand. Sie
bedauerte, daß die Bluse und der geschlitzte Rock weg waren, in denen sie so
erwachsen ausgesehen hatte. Die Kleider standen für einen kurzen, aber
insgesamt sehr glücklichen Abschnitt ihres Lebens. Ein Junge zu sein, in Jeans
und T-Shirt, gefiel ihr nicht. Ihr entsetzliches Haar fiel ihr wieder ein.
„Nathan“, sagte sie am Strand verlegen,
„ich glaube, es
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