Auf und davon
zur
Wand zusammen und versuchte einzuschlafen. Vielleicht war am Morgen alles in
Ordnung. Vielleicht hatte sich das Problem bis zum Morgen von selbst gelöst.
Doch er war zu aufgeregt zum Schlafen.
Unruhig warf er sich auf die andere Seite und sah, daß Julia immer noch mit
eingezogenem Kopf auf dem Bett saß. Sie zog verzweifelt an dem, was von ihren
Haaren noch übrig war, als wollte sie sie zum Wachsen zwingen. Trotz seiner Wut
tat sie Nathan leid, und das tat weh. Schließlich fiel er in einen unruhigen
Schlaf, und als er aufwachte, sah er im hereinströmenden Mondlicht, daß Julia
jetzt auch schlief, allerdings auf eine ganz besondere Art: Sie lag mit
ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, während die Füße den Boden berührten.
Lange vor Sonnenaufgang waren beide
hellwach, wenn auch völlig kaputt vor lauter Angst und weil sie zu wenig
geschlafen hatten.
„Wir könnten abhauen, bevor Mrs.
Parsons aufsteht“, sagte Nathan. Er tat so, als habe es nie Streit gegeben.
Julia warf einen Blick in den Spiegel
und sah schnell wieder weg.
„Gehen wir?“
„Mein Haar ist nicht gewachsen.“
„Das wird es auch nicht. Zumindest
dauert es Wochen. Außerdem bist du jetzt ein Junge.“
„Ich geh so nicht raus.“
„Okay“, sagte Nathan bedauernd. Er
stand auf und griff nach seiner Strandtasche. „Tschüß dann, Julia.“
„Du gehst nicht ohne mich!“
„Ich bleib nicht hier und laß mich
schnappen.“
„Laß mich nicht allein!“
„Dann komm mit.“
„Nein.“
Nathan ging zur Tür und öffnete sie.
Würde sie ihre Meinung ändern und nachkommen? Er schaute über die Schulter und
sah, daß sie immer noch verzweifelt und unglücklich auf dem Bett hockte.
Nathan schlich im Dunkeln die Treppe
hinunter. Die Haustür war abgeschlossen und mit einer Kette zusätzlich
gesichert, und er hatte große Angst, Mrs. Parsons oder sonst jemand könnte ihn
dabei überraschen, wie er die Kette abnahm. Doch das ganze Haus schlief tief
und fest, und einen Augenblick später stand Nathan auf der Straße.
Er fühlte sich sehr einsam. Allein
wegzulaufen, war etwas ganz anderes als zusammen mit jemand anderem. Er wußte
noch nicht so richtig, wie er allein zurechtkommen sollte.
Er bog um die Ecke und war schon ein
gutes Stück die Straße weitergegangen, bevor Julia ihn einholte.
9.
Blinde Passagiere
„Sollen wir nun mit einem Lastwagen
fahren?“ fragte Nathan. Julia antwortete nicht. Hinter ihr lag eine Phase
tiefster Verzweiflung. Nathan wußte, daß er sie mit Samthandschuhen anfassen
mußte, sonst könnte es sein, daß sie ihre Meinung wieder änderte. Sie trödelte
hinter ihm her, das lange, schmale Gesicht wirkte noch länger vor Müdigkeit.
Nathan drehte sich ein paarmal zu ihr um und grinste ihr aufmunternd zu, doch
sie schaute ihn gar nicht an.
Sie waren verletzlich und argwöhnisch —
allein am frühen Morgen in den leeren Straßen. Nathan hatte schreckliche Angst,
er könnte einem Polizisten begegnen.
An diesem Morgen schien in Brighton
eine außergewöhnliche Lastwagenknappheit zu herrschen. Während Nathan und Julia
suchend durch die Straßen liefen, ging die Sonne auf, und die Stadt erwachte
zum Leben.
Nathan war so auf einen Lastwagen fixiert,
daß er den Wohnwagen erst bemerkte, als sie schon ein gutes Stück an ihm vorbei
waren. Plötzlich blieb er stehen.
„Laß uns ein Stück zurückgehen.“
„Warum?“ Das war das erste Wort von
Julia, seit sie Mrs. Parsons Haus verlassen hatten.
„Ruh dich ein bißchen aus, da hinten am
Straßenrand.“
Sie folgte ihm schleppend, und Seite an
Seite hockten sie sich an den Straßenrand. Der Wohnwagen war auf der
gegenüberliegenden Straßenseite geparkt. Ein Mann mit Glatze und eine Frau mit
weißen Kringellocken waren mit letzten Vorbereitungen für ihren Urlaub
beschäftigt. Der Wohnwagen war groß, hatte orangefarbene Vorhänge und war an
einen metallicfarbenen Wagen angekoppelt, der ziemlich neu aussah. Der Mann und
die Frau gingen immer wieder ins Haus und kamen mit immer neuen Sachen wieder
heraus, die sie entweder im Auto oder im Wohnwagen verstauten.
„Schau dir den Wohnwagen an“, begann
Nathan vorsichtig. „Was ist damit?“
„Würdest du gern damit fahren? Anstatt
in einem Lastwagen?“
„Du spinnst.“
„Wir könnten einsteigen, wenn sie nicht
hinschauen.“
„Du spinnst.“
„Wir könnten es versuchen.“
„Wo fahren sie hin?“
„Weiß ich doch nicht. Irgendwohin.
Wahrscheinlich an einen anderen
Weitere Kostenlose Bücher