Auf und davon
will.“
„Oh“, sagte Julia enttäuscht. Sie
überlegte, dann sagte sie: „Ich kann ein bißchen lesen.“
„Nicht genug für die Prüfungen.“
„Ich könnte es lernen. Ich hab heute
ganz allein ein schweres Wort gelesen.“
„Ja — aber wir gehen doch nicht mehr in
die Schule.“
Julia dachte wieder angestrengt nach.
„Könntest du es mir nicht beibringen,
Nathan?“ Es kostete sie eine ganze Menge, die Worte auszusprechen. Worum sie
bitten mußte, war ihr ausgesprochen peinlich.
„Wir haben keine Bücher.“
„Wir könnten welche kaufen. Morgen,
morgen könnten wir welche kaufen. Ach, Nathan, bitte!“
Sie wartete auf seine Antwort. Nathan
überlegte sie sich sorgfältig. Er wollte sich nicht voreilig zu etwas hinreißen
lassen. Einem Hohlkopf wie Julia etwas beibringen zu wollen, war bestimmt ganz
schön anstrengend. Andererseits hatte sie ihm heute geholfen, als er auf ihre
Hilfe angewiesen war. Sie war zwar eine dumme Kuh, aber eigentlich doch ganz
nett. „Okay“, sagte er.
„Wirklich?“
„Ich hab okay gesagt. Hörst du
schlecht? Ich leg mich jetzt schlafen. Bis morgen dann.“
„Bis morgen“, sagte Julia glücklich.
Sie zog sich aus, kroch in ihren Schlafsack und schloß die Augen, obwohl es
draußen noch hell war. Sich von dem Tag zu verabschieden, fiel ihr nicht
schwer, denn morgen, morgen würde ein ganz neues Kapitel ihres Lebens beginnen.
Das beste bisher.
12.
Elizabeth
Julia verbrachte eine entsetzliche
Nacht. Zuerst waren da die fremden Geräusche. Dann die Härte und Unebenheit des
Bodens, der mit der Zeit immer härter und unebener wurde. Und die Tatsache, daß
sie sich nicht richtig entspannen konnte, denn wenn sie das getan hätte, wäre
sie sofort den Abhang runter zum Fluß gerollt oder gerutscht. Ihr Gewicht hätte
die Zelt-Heringe augenblicklich aus dem Boden gezogen, und sie wäre im kalten
schwarzen Wasser da unten gelandet. Also stemmte Julia in Seitenlage die Knie
gegen einen kleinen Erdhügel unter dem Zeltboden und die ausgestreckte Hand
gegen eine zweite Erhebung.
An guten Schlaf war unter diesen
Umständen natürlich nicht zu denken. Julia verfolgten wilde Träume, meist von
Stürzen über Klippen oder verzweifelten Versuchen, nicht aus dem Fenster im
dritten Stock zu fallen. Die Wachphasen dazwischen waren erfüllt von dem
intensiven Plastikgeruch des Zeltes und der zunehmenden Feuchtigkeit, die alles
zu durchdringen schien, selbst ihren Schlafsack.
Irgendwie hatte Julia sich vorgestellt,
daß in einem Zelt zu schlafen, nicht viel anders sei als in einem Haus, aber es
war ganz anders. Morgen, dachte sie voller Selbstmitleid, muß ich in meinen
Kleidern schlafen.
Das Morgenlied der Vögel wurde
angestimmt. Ein kleiner Sänger begann, der zweite folgte, es wurde ein
anschwellender Chor daraus, bis das ganze Feld von dem Gezwitscher erfüllt war.
Julia hätte nie gedacht, daß es auf dem Land so elend laut sein könnte.
Unglücklich wälzte sie sich mitsamt ihrem Schlafsack aus dem Zelt auf das
taufeuchte Gras.
„Nathan, bist du schon wach?“
„Ja.“
„Hast du geschlafen?“
„Nö.“
„Tut dein Arm noch weh?“
„Ja.
„Soll ich den Verband neu machen?“
„Wenn du willst.“
Julia schaute in Nathans Zelt und sah
ihn zusammengerollt in seinem Schlafsack liegen. Auch er stemmte sich gegen
eine Bodenerhebung, um nicht den Abhang hinunterzukullern. Er trug seinen
Anorak, soviel konnte sie sehen, und wahrscheinlich auch die anderen Kleider.
Wenigstens hatte er es wärmer gehabt als sie.
Julia kroch in ihr eigenes Zelt zurück
und zog umständlich ihre Jeans und das T-Shirt an. Sie zog auch die dämliche
Mütze aus Brighton auf. Sie fühlte sich wohler, wenn niemand, auch Nathan
nicht, ihre Frisur sah. Jetzt, wo sie sich an die Mütze gewöhnt hatte, fand sie
selbst die noch erträglicher als ihre Frisur. „Du mußt schon rauskommen, Nathan“,
rief sie, „da drin kann ich dir den Arm nicht verbinden.“
„Es ist kalt“, klagte er, nachdem er
sich an die feuchte, kühle Morgenluft gearbeitet hatte.
Sein Gesicht war angespannt vor
Schmerz, und er sah ausgesprochen schlechtgelaunt aus. Er schaute Julia böse
an, als sie den Verband abnahm, und zuckte bei einer ungeschickten Bewegung von
ihr zusammen.
„Vorsicht, du blöde Ziege. Das tut weh.“
Julias Laune, die ohnehin nicht die
beste gewesen war, sank weiter. Wenn Nathan brummig war, wurde alles noch
unerträglicher.
„Gestern hast du noch gesagt, ich
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