Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Thomas
Vom Netzwerk:
wegzuschieben. Auf seiner dunklen Haut waren die Flecken
beim flüchtigen Hinsehen nicht zu erkennen, doch sie waren ganz ohne Zweifel
da. Julia lächelte, und das Lächeln ließ sie für einen Augenblick richtig schön
erscheinen.
    „Ich weiß, was du hast“, verkündete
sie. „Du hast die Masern!“

 
    16.
     

Verhängnis im Hafen
     
     
     
    Jetzt, wo sie wußten, daß Nathan
lediglich die Masern hatte, erwarteten sie täglich, daß er wieder gesund würde.
    „Du mußt dich bei dem kleinen Mädchen
im Bus angesteckt haben“, sagte Julia.
    „Steckst du dich jetzt bei mir an?“
    „Nein — ich hab sie schon gehabt. Man
kriegt sie nur einmal.“ Ein paar Tage fühlte Nathan sich noch elend. Er
stocherte im Essen herum und war sauer auf Julia, und sie ertrug alles mit
bewundernswerter Geduld. Wenn er die Nase rümpfte über etwas, das sie gerade
gekocht hatte, nahm sie das Essen wortlos weg und bot ihm an, etwas anderes zu
machen. Sie war so froh, daß Nathan nicht sterben würde, daß ihr nichts zuviel
wurde. Selbst die Schmerzen in ihrem verstauchten Knöchel ertrug sie klaglos. „Wenn
ich bloß lesen könnte“, brummte Nathan eines Nachmittags.
    „Soll ich dir was vorlesen?“ erbot sich
Julia.
    „Was denn?“
    „Ich könnte dir aus Das leere Herz vorlesen.“
    „Verschone mich!“
    „Ich hab ein neues Heft angefangen — es
heißt Morgendämmerung
der Liebe .“
    Nathan stöhnte. „Das hört sich noch
schlimmer an als das erste. Wenn ich bloß die Schatzinsel mitgebracht hätte. Aber das könntest du ohnehin noch nicht lesen, da sind eine
Menge schwerer Wörter drin.“
    „Ich werd aber immer besser, Nathan,
stimmt’s?“
    „Ja. Du machst dich nicht schlecht.“
    „Mrs. Henrey würde sich freuen, meinst
du nicht auch? Und die ganze Klasse würde staunen, daß ich lesen kann.“
    „Wahrscheinlich... Jule, hast du schon
mal dran gedacht, daß es jetzt keine 6. Klasse mehr gibt?“
    „Nein? Ach ja, du hast recht, jetzt
sind ja Ferien.“
    „Und nach den Ferien —“
    „ — gehen wir alle auf unsere neuen
Schulen... ich meine, sie gehen alle auf ihre neuen Schulen... ich meine — Nathan,
gehen wir nie mehr zur Schule?“
    „Was willst du denn noch in der Schule?
Du kannst doch jetzt lesen. Fast.“
    „Ich weiß nicht... Ich würd gern
wissen, ob sie mich in der neuen Schule leiden könnten.“
    „Spielt keine Rolle, weil wir nicht
gehen.“
    Julia blieb beim Thema. „Mich hat nie
jemand leiden können.“ Einen Augenblick lang dachte sie an Elizabeth und an
Mrs. Parsons, aber diese Bekanntschaften waren so kurz gewesen, daß sie kaum
zählten. „Nicht mal meine Mutter kann mich leiden“, fügte sie hinzu.
    „Ich mag dich.“
    „Wirklich?“ Julia wurde rot vor Freude.
    „Ja. Weil — du bist anders als vorher.
Als wir noch in der Schule waren, konnte ich dich auch nicht leiden.“
    „Ich dich auch nicht. Du bist auch
anders.“ Seine schlechte Laune wegen der Masern zählte sie nicht mit. Jeder
durfte schlechte Laune haben, wenn er krank war.
    „Nathan?“
    „Was?“
    „Glaubst du, deine und meine Mutter
vermissen uns?“
    „Nein — wahrscheinlich haben sie uns
inzwischen schon vergessen.“ Ganz plötzlich jedoch überkam Nathan das schlechte
Gewissen. Er dachte an seinen Vater, dem der Ledergürtel allzu locker saß. Er
dachte aber auch an den Blick des Vaters im Büro von Mr. Barlowe — der Blick
voller Sorge und Schmerz, als er dachte, sein Sohn hätte gestohlen. Damals im
Büro hatte für Nathan in diesem Blick eine Drohung gelegen. Erst jetzt kam ihm
der Gedanke, daß es vielleicht mehr Enttäuschung gewesen sein könnte. Er dachte
auch an seine Mutter, und das tat so weh, daß er es nicht ertragen konnte, also
zwang er den Gedanken zu Seite und sagte sich, daß seine Mutter ja noch die
anderen Geschwister hatte und sich wegen ihm bestimmt nicht allzuviele Sorge
machen konnte. Unmöglich. Oder?
    Wieder ein langes Schweigen.
    „Nathan, glaubst du, meine Mutter würde
mich jetzt mögen?“
    „Ich denke schon. Jetzt würde dich
wahrscheinlich jeder mögen.“
    „Auch mit meinem Haar, so, wie es jetzt
ist?“
    „Ich mag dich auch mit deinem Haar, so,
wie es jetzt ist.“
    „Stimmt, du magst mich... Nathan — warum
sind wir eigentlich weggelaufen?“
    „Das weißt du genau.“
    „Ja, aber — warum haben wir’s gemacht?“
    „Sie wollten uns unser Geld wegnehmen.“
    „Bald haben wir sowieso nichts mehr
davon. Warum sind wir noch weggelaufen?“
    „Sie

Weitere Kostenlose Bücher