Auf und davon
Schwüre, ich will es
sehen.“
Ohne die Ärmel aufzuknoten, drehte
Nathan die Taschen seines Anoraks um. Die Taschen waren leer, doch das Loch in
der einen war nicht zu übersehen, und der dicke Mann sah es natürlich auch.
„Hast du was durch das Loch ins Futter
gesteckt?“
„Nein, nichts!“
„Du lügst, du kleine Ratte, ich sehe
doch, daß da was drin ist.“
„Da ist nichts. Es gehört mir. Es ist
meins.“
„Laß sehen.“
„Nein.“
Der dicke Mann streckte die Hand aus.
Nathan sah, was er vorhatte, war jedoch nicht annähernd schnell genug. Er
duckte sich, doch die Hand des Mannes hatte sich bereits um die Kapuze des
Anoraks geschlossen. Verzweifelt versuchte Nathan, sich zu befreien. Er griff
nach der Kante der offenen Luke und zog und zerrte. Und plötzlich war er frei.
Er sprang über die Reling und spürte den Schmerz, als er auf den Steinen im
Hafenbecken aufkam. Er rappelte sich wieder auf und rannte mit weichen Knien zu
der Stelle, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. Wollte das Schloß denn gar
nicht aufgehen? Doch, es ließ sich öffnen, und niemand war hinter ihm her.
Endlich saß er auf dem Rad und trat in die Pedale, so schnell seine wackligen
Beine es erlaubten.
Nathan war entkommen. Doch der
Bootsbesitzer hielt immer noch den Anorak in der Hand. Den Anorak mit über
achthundert Pfund im Futter.
Die Fahrt zurück zum Lager war ein
Alptraum. Ein Teil von Nathan konnte nicht glauben, daß ihn ein solcher
Schicksalsschlag tatsächlich getroffen hatte. Es mußte ein böser Traum sein.
Immer wieder griff er an seine Hüfte, in der Hoffnung, den Anorak zu spüren.
Doch die traurige Wahrheit ließ sich nicht verleugnen — der Anorak war weg.
Der andere Teil von Nathan schämte sich
fast zu Tode, wenn er daran dachte, daß er Julia gegenübertreten und ihr die
schreckliche Nachricht überbringen mußte. Kein Essen und die Hälfte ihres
Geldes weg.
Sie hatte ihn gewarnt, und er hatte
nicht auf sie gehört. Hätte er bloß auf sie gehört! Während er sein Rad den
Porlock-Berg hinaufschob — was diesmal wesentlich einfacher ging, da es unbeladen
war — , schrieb er den Verlauf der Ereignisse neu. Nach dieser neuen Version
hatte er Julias Rat befolgt und sein Geld unter dem Zelt vergraben. Jetzt
spielte es keine Rolle mehr, daß der große Mann seinen Anorak hatte. Es war ja
nur ein alter Anorak, und er hatte genügend Geld, um sich einen neuen zu
kaufen.
Leider machte er sich das alles nur
vor.
Julia würde wahrscheinlich böse sein.
Wahrscheinlich würde sie sagen: „Ich hab’s dir gesagt“, und schrecklich
selbstgefällig tun. Aber perfekt war sie schließlich auch nicht. Wer hatte zum
Beispiel die vollbeladenen Räder den Berg hinaufgewuchtet? Und wer hatte die
Idee gehabt, als blinde Passagiere im Wohnwagen mitzufahren? Was bildete sich
Julia Winter eigentlich ein, daß sie glaubte, ihn ausschimpfen zu können, nur
weil er seinen Anorak verloren hatte?
Während er durchs Moor fuhr, spielte
Nathan in Gedanken eine Szene durch, in der er und Julia sich gegenseitig
schlimme Sachen an den Kopf warfen. Der Streit war heftig und bitter und endete
damit, daß jeder in seinem Zelt verschwand und nicht mehr mit dem anderen
redete.
Nur — so war es in Wirklichkeit auch
nicht. Als Nathan dem Lager immer näher kam, verlor sich seine dumme,
aufgesetzte Wut, und an ihre Stelle trat dumpfe Verzweiflung. Tränen traten ihm
in die Augen und ließen sich nicht zurückhalten. Sie rollten ihm über die
Wangen und in den Mund, und er sah noch weniger als zuvor. Die Tränen
schmeckten salzig und warm — das einzig Warme an diesem Tag im Moor, in einem
kalten, windigen Moor, das so freundlich gewesen war und sich jetzt ins
trostlose und grausame Gegenteil verkehrt hatte.
Julia wartete auf Nathan, das Wasser
für den Tee war schon heiß. Als sie ihn das Rad den grasigen Abhang
herunterschieben sah, lächelte sie. In seinem ganzen Elend bemerkte Nathan
noch, als er näherkam, daß ihr Haar tatsächlich schon ein Stück gewachsen war.
Er sah es unter der Mütze hervorlugen. Bald würde sie wieder richtig nett
aussehen, wie in Brighton. Es war eine Schande, eine riesengroße Schande, daß
er das Lächeln von ihrem Gesicht wischen mußte.
Das Lächeln verschwand von allein, als
sie merkte, daß er weinte. „Nathan, was ist los?“
Nathan versuchte ihr alles zu erzählen.
Er wollte ihr alles erzählen und es hinter sich bringen, aber die Wörter
wollten nicht kommen, nur laute, hicksende
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