Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Thomas
Vom Netzwerk:
den Hafen?“
    „Was ist damit?“
    „Erinnerst du dich an das große Schiff,
das nach Norwegen fuhr?“
    „Nein.“
    „Aber ich erinnere mich.“
    „So?“
    „Wir könnten uns auf dem Schiff
verstecken und nach Norwegen fahren!“
    Jetzt war es raus. Der Traum, den er die
ganzen Wochen über gehegt hatte. Geboren aus seinen Büchern, genährt von seiner
Phantasie und nun ans Tageslicht gebracht, weil die Gefahr, in der sie sich
befanden, es erforderte.
    Julia schaute ihn entgeistert an. „Du
bist verrückt!“
    Nun, das hatte er erwartet. „Ich hab ja
gesagt, daß dir die Idee nicht gefällt.“
    „Als blinde Passagiere auf einem
Schiff? Wir?“
    „Wir sind auch im Wohnwagen
mitgefahren. Das war okay.“ Julia überlegte. „Vielleicht ist das Schiff gar
nicht mehr da.“
    „Dann nehmen wir ein anderes. Wir
warten, bis eines kommt. Aber es wird eins da sein, ich weiß einfach, daß eins
da ist.“ Julia ließ den Kopf auf die Arme sinken. Alles ging so schnell. Das
kleine bißchen Sicherheit im Zelt, das sie während der vergangenen Wochen so
genossen hatte, war plötzlich nicht mehr da, hatte sich in Luft aufgelöst. Und
an seiner Stelle — was? „Ich will nicht nach Norwegen“, sagte sie sehr leise. „Wenn
wir erst dort sind, ist es vielleicht ganz schön.“
    „Aber es wird nicht gehen. Sie schicken
uns wieder zurück.“
    „Vielleicht auch nicht. Vielleicht gibt’s
eine Möglichkeit. Versuchen wir es doch einfach, Jule, ja? Ja?“
    Julia kaute auf einem Grashalm und
schaute traurig auf ihr kleines Lager hinunter. „Wenn sie uns bloß in Ruhe
lassen würden... Wie sieht es denn aus in Norwegen, Nathan?“
    „Weißt du nicht mehr? Mr. Abbot hat uns
davon erzählt, als wir in seiner Klasse waren. Lauter Berge mit Schnee drauf
und Wald.“
    „Ist es kalt?“
    „Wir können warme Sachen kaufen.“
    Kalt. Und ungemütlich. Und es lauerten
schreckliche, unbekannte Gefahren. Und dabei gab es in London eine gemütliche
kleine Wohnung mit einem warmen Bett und dem Fernseher und drei Mahlzeiten am
Tag.
    „Ich will nach Hause“, sagte Julia.
    „Was!?“
    „Ich will nach Hause. Ich will auf kein
Schiff. Ich will nach Hause.“
    „Und was ist, wenn sie dich einsperren?
Und was ist, wenn deine Mutter dich verprügelt?“
    „Ich glaub nicht, daß sie mich
einsperren. Und ich glaub auch nicht, daß meine Mutter mich verprügelt.
Zumindest nicht sehr. Ich glaub, das hat sie nur so gesagt, sie hat es nicht so
gemeint. Ich will nach Hause.“
    Sie meinte es ernst. Nathan kämpfte mit
sich. „Dann geh.“
    „Was soll das heißen, dann geh?“
    „Geh runter ins Lager und warte auf die
Polizei. Sie bringen dich heim.“
    „Kommst du nicht mit?“
    „Nein. Ich geh auf das Schiff. Ich
wollte schon immer auf ein Schiff. Das ist meine beste Gelegenheit.“
    Julia schaute ihn kläglich an. „Aber
ich hab Angst ohne dich. Ich hab Angst davor, runterzugehen und ganz allein auf
die Polizei zu warten.“
    „Mußt du aber.“
    „Was glaubst du, daß sie mit mir
machen, Nathan?“
    „Das ist dein Problem. Ich mach mich
aus dem Staub, bevor sie kommen.“
    Er begann, sich aus seinem Versteck zu
schälen, weil er plötzlich schreckliche Angst hatte, die Polizei könnte kommen
und Julia würde sich stellen und ihn so zwingen, dasselbe zu tun. „Laß mich
nicht allein“, bat Julia. „Laß mich nicht allein, Nathan!“
    Nathan zerrte sein Fahrrad aus dem
Unterholz und den ungeschützten Abhang hinunter. Es holperte über den unebenen
Boden. Julia kam hinterher.
    „Wart auf mich, Nathan. Warte doch!“
    Sie liefen am Bach entlang, bis er eine
Biegung machte und sie vom Lager aus nicht mehr zu sehen waren. Die Angst gab
ihnen beiden die nötige Kraft. Nathan hatte entsetzliche Angst, seine Chance zu
verpassen, und Julia hatte Angst, Nathan zu verlieren.
    Sie entfernten sich immer weiter von
der Straße, gingen tiefer ins Moor hinein. Nathan wußte, wohin er ging. Diesen
Teil des Moors kannte er ziemlich gut — während der friedvollen Tage hatte er
ihn oft genug durchstreift. Er ging dahin, wo die Polizei ihn bestimmt nicht
suchen würde, es sei denn, sie hätte gesehen, wohin er lief. Wenn Julia wollte,
konnte sie mitkommen, ganz wie es ihr gefiel. Er jedenfalls wäre in Sicherheit.
Solang Julia ihn nicht verriet. Aber die Möglichkeit bestand, daß sie ihn
verriet. Oder? Sie konnte immer noch zurückgehen und den Polizisten verraten,
welchen Weg er eingeschlagen hatte. Nathan drehte sich um. „Kommst

Weitere Kostenlose Bücher