Aufbruch - Roman
hatte ich schon: LTI von Victor Klemperer. Wir gaben einander die Hand.
»Und vergiss das Lenchen nicht«, rief Friedel mir auf der Treppe nach. »Deine Familie weiß Bescheid.«
Vieles hatte ich in den vergangenen Wochen gelernt: Dass jeder nur die Antwort gibt, nur die Geschichte erzählt, die er geben will, die er erzählen kann. Über das Traurigste, das, was ihnen am nächsten ging, sprachen die Menschen zuletzt oder gar nicht. Wenn es um Lenchen ging, verstummte man in der Familie. Die Mutter nie ohne Tränen in den Augen. Was würde ich von ihr erfahren? Von der Großmutter? Die Erinnerung quälte sie. Hatte die Apothekerin nicht recht mit ihrem »Lasst die Toten ihre Toten begraben«? Die Tante mit ihrem »Schluss jetzt!«? Warum ließ mir die unvollendete Geschichte von Lenchen keine Ruhe?
Wann immer es möglich war, lenkte ich in den nächsten Wochen das Thema auf Helene Herz und ihre Familie. Nicht
nur zu Hause. Vorsichtig forschte ich Tante und Cousinen aus, die Nachbarn und füllte ein Heft ums andere.
Ein, zwei Monate waren vergangen, als die Klasse wieder einmal auf Rebmann warten musste. Sehr genau mit der Pünktlichkeit nahm er es nie, doch nach einer Viertelstunde machte Clas sich auf ins Lehrerzimmer. Wenig später kam er mit dem Vermissten zurück. Rebmann war blass, Schweißperlen auf der Stirn, obwohl es draußen nasskalt und grau war. Er, meist in Cordhose, kariertem Hemd und Tweedjackett, trug heute zwar die übliche dunkelrote Strickkrawatte, doch dazu ein weißes Hemd und eine doppelreihig geknöpfte dunkle Jacke, die an eine Uniform erinnerte. Unser Begrüßungsgemurmel kaum erwidernd, ließ er die Aktentasche aufschnappen, nahm einen Brief heraus, »Setzen!«, kommandierte er knapp. Er, der sonst nie das Bitte vergaß und das höfliche Sie.
»Dieser Brief«, Rebmanns Stimme klang dünn und blechern, »ist an den Direktor dieser Schule geschickt worden. Mit der Aufforderung, ihn an mich weiterzuleiten. Herr Dr. Sartorius«, Rebmann schien den Namen des Direktors wie unangenehme Essensreste auszuspucken, »Herr Dr. Sartorius«, wiederholte er, keinen Zweifel an seiner Verachtung lassend, »hat mir gestern und heute Morgen noch einmal verboten, Ihnen diesen Brief zur Kenntnis zu bringen.« Wie aufgebracht Rebmann sein musste! Niemals sonst hätte er Floskeln wie »zur Kenntnis bringen« benutzt, »vorlesen genügt«, hätte er an den Rand geschrieben. »Das habe ich abgelehnt«, fuhr Rebmann fort. »Hören Sie selbst!« Rebmann schlug den Brief auseinander, Maschinenschrift auf einer DIN-A4-Seite, räusperte sich. »Kein Briefkopf. Kein Datum. ›Sehr geehrter Herr Dr. Sartorius! Mit wachsender Empörung habe ich in den vergangenen Wochen das Betragen meines Sohnes‹«, Rebmann schaute auf, umher, sah niemanden an, »kein Name - ›zur Kenntnis nehmen müssen. Nicht nur ich und meine Frau, auch die gesamte Verwandtschaft, Freunde und Bekannte werden in geradezu
inquisitorischer Manier mit Fragen nach unserem Verhalten im Dritten Reich belästigt. Auf Nachfrage wurde mir gesagt, dies geschehe auf Anweisung des Deutschlehrers, eines Herrn Dr. Rebmann, und sei Materialsammlung für eine Jahresarbeit zum Thema Nazizeit. Ich halte das Vorgehen dieses Pädagogen ‹«, Rebmann unterbrach erneut, »›Pädagoge‹ in Anführungszeichen - ›für unverantwortliche Brunnenvergiftung, Aufstachelung zu unerträglicher Schnüffelei und Nestbeschmutzung, Unterminierung der elterlichen Autorität in geradezu bösartiger Weise. Mein Sohn, bis dato ein leicht lenkbares Kind, ist seither wie verwandelt: aufsässig, hartnäckig, besserwisserisch. Es kann nicht das Ziel verantwortungsvoller Pädagogik sein, junge Menschen zum Widerstand gegen Eltern und Familie und damit gegen Staat und Vaterland zu erziehen. Ich fordere Sie daher mit aller Nachdrücklichkeit auf, den Umtrieben dieses sauberen Herrn Lehrers Einhalt zu gebieten. Verachtungsvoll: ein besorgter Vater und Staatsbürger‹.«
Rebmann ließ das Papier angeekelt aufs Pult fallen: »Kein Name. Natürlich nicht, kennen wir doch.« Glättete es, faltete es mit seiner einen Hand zusammen. Öffnete die Aktenmappe und kramte einen Plastikbeutel, Aufdruck: »Kenner kaufen Keuken-Kakao«, heraus. Fuhr hinein, zog etwas hervor, das wie eine Brosche aussah, und steckte das Ding ans Revers seiner dunkelblauen Jacke. Es war ein kurzes breites Kreuz, in der Mitte ein Hakenkreuz, an einem roten Ripsband mit schwarz-weißem Rand. Rolf, Armin und Clas
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