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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ließ.
    »Ja«, bestätigte ich, »die Oma kann sich über das viele ›heilig‹ von denen noch heute aufregen. ›Heilisch, heilisch, mir han sälver Hellije jenuch! Un mir sin nit arisch, mir sin kattolisch«‹ Die blieb ihrem lieben Gott treu.«
    »Ja, Hilla, die Treue. Auf Treu und Glauben. Auch zwei schöne alte Wörter.« Friedels kleine dünne Gestalt sackte noch ein bisschen mehr zusammen. Ihre traurigen grauen Augen wirkten verletzt. »Weißt du, worüber ich mir immer wieder den Kopf zerbreche: Keiner aus meiner Familie, keiner in der Schule hielt es für möglich. Und ich, damals kaum so alt wie du heute, natürlich auch nicht. Wir Deutschen waren doch ein Kulturvolk. Christen. Mit Nächstenliebe, Barmherzigkeit. Die Aufklärung nannte das Humanität. Übrigens ein Wort, das bei den Nazis verpönt war. Sie machten sich darüber lustig. Der Erste Weltkrieg gerade fünfzehn Jahre vorbei. Wir hätten es doch alle besser wissen müssen. Völlig unmöglich schien uns, dass es noch einmal eine Judenverfolgung geben könnte. Im 20. Jahrhundert! Wie im Mittelalter. Und dann wollten die Nazis ihre Pest auch noch modern erscheinen lassen. Es gab kein Entrinnen. Früher konnten sich die Juden wenigstens taufen lassen. So, wie unsere Herzens. Rasse! Diese lächerlichen Vögel da oben! Einer ›reinrassiger‹ als der andere! Du kannst es dir nicht vorstellen, welche Blüten das trieb!«

    Doch. Ich kannte ein Beispiel aus den Erzählungen der Mutter. Lenchen hatte ihren Kater zu ihr gebracht, ihren Murr, als Juden keine Haustiere mehr haben durften, und in die Altstraße 2 war dann auch Das deutsche Katzenwesen geschickt worden, die Fachzeitschrift des Reichsverbandes für das Deutsche Katzenwesen .
    »Wir verachteten sie«, fuhr Friedel fort. »Und doch: Wenn sie durch die Dorfstraße zogen, den Schinderturm, am alten Rathaus vorbei, in die Anlagen zur Freilichtbühne, das machte Eindruck. Und Angst. Wenn es ging, bin ich in eine andere Straße ausgewichen oder im Haus geblieben. Die da marschierten, kannte man ja, und man kannte sie auch wieder nicht. Unheimlich, wie Uniform und Marschtritt den Nachbarn verändern. Sie marschierten und sangen noch, als Stalingrad fiel und Mussolini stürzte und die Amerikaner schon in Remagen über den Rhein setzten.«
    Und die es gehört hatten? Nichts getan?
    »Als sie erst einmal marschierten, war es zu spät.« Friedels Stimme klang hart, kühl, beinah feindselig. »Man duckte sich weg. Alles andere war tödlich. Weiß man ja.«
    Wieder hätte ich gern gefragt: Und du, Friedel Mertens, was hast du getan? Sie hatte viel erzählt, ich hatte viel erfahren. Aber wo war Friedel, wer war Friedel gewesen in dieser Zeit? Vielleicht, ging es mir durch den Kopf, ist das auch eine Möglichkeit, sich diese Zeit fernzuhalten: Nicht über sich nachzudenken, sondern über die Zeit. Sich als Betrachter zu sehen, nicht als Mitspieler. Aber ich ahnte auch, dass ich kein Recht hatte, mehr zu fordern, als man mir zu geben bereit war. Ich hatte das Recht zu fragen, nicht zu verhören. Keine Urteile fällen, hatte Rebmann gesagt.
    Die Wohnungstür fiel ins Schloss, Schritte im Flur. Friedels Mann kam von der Arbeit, müde, erschöpft. Er saß in der Dondorfer Sparkasse hinter einem der beiden Schalter und ließ acht Stunden täglich Geldscheine und Münzen durch die Finger gleiten, Unsummen mussten das sein, dachte ich und hätte ihn gern gefragt, ob er wisse, wie viel Geld er Tag für
Tag auszahle und ob er sich noch nie vorgestellt hätte, mit der Kasse einfach mal auf und davon zu gehen. Doch dazu wäre der hagere Mann - gleichsam nur durch seinen Anzug zusammengehalten, darunter einen dicken Pullover überm Hemd mit Krawatte - wohl kaum imstande gewesen. Horst Mertens, vor dem Krieg Student der Mathematik, mit dem letzten Transport aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, hatte nicht wieder Fuß gefasst und sich mit der Sparkasse zufriedengegeben. Wenn Zufriedenheit bedeutet, nichts mehr zu wünschen, war Horst Mertens ein zufriedener Mensch. Er begrüßte mich ohne ein Zeichen von Überraschung mit einem stillen freundlichen Nicken und ließ uns gleich wieder allein. Die Klospülung ging, ein Wasserhahn wurde aufgedreht. Friedel und ich erhoben uns fast gleichzeitig.
    »Wenn du noch Fragen hast«, Friedel unterbrach sich, »natürlich hast du noch Fragen! Als ob ich keine mehr hätte! Als ob es die Antwort gäbe. Also: jederzeit. Mit und ohne Fragen. Auf bald. Hier für dich.«
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