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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Gut aufgeschrieben. Auch, wenn Ihre Phantasie wohl ein paarmal mit Ihnen durchgegangen ist.« Rebmann sah mich durchdringend an. »Die Postkarte möchte ich sehen«, sagte er leise; hörte ich richtig, wenn ich glaubte, dass seine Stimme ein wenig zitterte? »Und die Handschuhe. Wenn’s beliebt«, fügte er lauter und mit traurigem Spott hinzu.
    Die sollte er zu Gesicht kriegen. In Cellophan verpackt lagen sie im Kleiderschrank auf dem Speicher. Wirklich hatte Lenchen sie der Mutter zur Hochzeit geschenkt. Ich sollte sie zur Verlobung kriegen.
    Eine Postkarte gab es nicht.
    Lenchens Flucht hatte ich erfunden. Helene Sara Schmitz, geborene Herz, war bei denen gewesen, die mit allen anderen verschwunden waren, in jener Nacht. Das war es, was die Mutter erzählt hatte. Ich wollte Lenchen retten. Wenigstens in eine Geschichte, in eine Postkarte aus New York.
    Auf das Zitat kam Rebmann noch einmal zurück. »Goethe: Lebensregel«, schrieb er an die Tafel. »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, / Musst dich ums Vergangene nicht kümmern.« Und eröffnete die Diskussion mit einem langgezogenen: »Nun?«
    Ich meldete mich: »Es holpert.«
    »Wie bitte?«
    »Es holpert. Goethe hätte besser daran getan, in der zweiten Zeile das ›dich‹ hinters ›Vergangene‹ zu rücken.«
    So hatte ich den Dichter zitiert, so war mir der Spruch im Gedächtnis geblieben. »›Musst ums Vergangene dich nicht kümmern. ‹ Das wäre dann rhythmisch einwandfrei gewesen und hätte auch optisch das ›dich‹, also den Menschen, hinter das Vergangene gerückt, das Vergangene wäre also das dem Menschen Vorangegangene. Das hätte optisch und logisch zum Ausdruck gebracht, dass das Vergangene dem Menschen vorausgeht, der Mensch seiner Vergangenheit naturgemäß folgen muss.«
    »So«, kommentierte Rebmann und wedelte den Goethe-Band durch die Luft, als wollte er sich Kühlung zufächeln. »So,
Goethe hätte also, wie Sie sich ausdrücken, ›besser daran getan‹; rhythmisch nicht ganz einwandfrei, der Klassiker der Deutschen. Dazu kann ich nur sagen: Ein Lump sind Sie wahrlich nicht, Fräulein Palm.« Rebmann legte das Buch aufs Pult zurück. »So sagt es doch der Meister selbst: Nur die Lumpe sind bescheiden. Fräulein Palm ist kein Lump. Also …«
    Rebmann ließ seine Augen über unsere Köpfe wandern. Sein Blick blieb an Rolf Armbruster hängen, der gelangweilt an die Tafel stierte, wo auf grüngrauem Untergrund noch die Kreidereste schlecht abgewischter Logarithmen schimmerten. »Was meinen Sie, Armbruster, wer hat recht: der Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe oder Fräulein Hildegard Palm?« Mit gleichmäßig freundlicher Lehrerstimme brachte Rebmann die Lebensregel zu Gehör, das »dich« mal vor, mal hinter dem »Vergangenen«.
    »Vom Standpunkt der Aussage«, Rolf kniff die Augen zusammen, »befinden sich die Sätze in einem vollkommenen Gleichgewicht. Die Aussagen sind deckungsgleich. Goethe ist gleich Palm und vice versa.«
    »Wie a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat«, spottete Rebmann. »Wer ist anderer Meinung? Nun, Fräulein Schuhmacher?«
    Anke löste ihren Blick von Armins Haartolle. »Goethe, äh, Goethe«, stotterte sie, »Goethe wird sich wohl etwas dabei gedacht haben.«
    Rebmann hatte währenddessen den Zweizeiler in beiden Versionen an die Tafel geschrieben.
    »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Musst dich ums Vergangene nicht kümmern.«
    »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Musst ums Vergangene dich nicht kümmern.«
    »Natürlich«, sagte ich, »kann man die Sache auch so sehen. Das ›dich‹ bei Goethe schleppt die Vergangenheit hinter sich her. Bei mir geht die Vergangenheit dem Du voran, ist das Du vom
Vergangenen geleitet, vorbestimmt. So oder so: Frei vom Vergangenen ist das Du in keinem Fall.«
    Doch das wollte Clas nicht gelten lassen: »In Hillas Version«, sagte er, »ist das Du aber offen für die Zukunft, das Kommende.«
    »Und bei Goethe«, wandte Alois ein, »hat es die Zukunft vor sich. Man kann das ›dich‹ auch noch weiter verschieben, das ›dich‹ hinter das ›nicht‹.«
    Rebmann sah auf die Uhr. »Und nun sag ich Ihnen noch, wie es bei Goethe richtig heißt: ›Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, / Musst dich um’s Vergangne nicht bekümmern.‹ Nun, Fräulein Palm?«
    Ich biss mir auf die Lippe. Ein e zu viel und ein be zu wenig, und schon hatte ich den Klassiker ins Stolpern gebracht. Doch wenigstens wusste ich, wie’s weiterging: »Das Wenigste muss dich

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