Aufbruch - Roman
schnauften anerkennend, »EK I«, murmelte Alois ehrfürchtig. Noch zweimal griff Rebmann in die Tüte, holte Orden heraus und steckte sie an. Dann schob er sich das Papier zwischen die Lippen, wie Kohlhaas, schoss es mir durch den Kopf, doch Rebmann verschlang nichts, vielmehr bissen sich seine Zähne in die Kante des Briefes, den er mit seiner einen Hand zerriss, einmal mitten durch, dann noch einmal zubiss, riss, und noch einmal. Nestelte die Orden vom Revers und hinein in die Tüte vom Keuken-Kakao, fegte die Schnipsel vom Pult, hinein zu den Orden. »Die Jahresarbeit wird nicht
benotet«, sagte er. »Sie selbst können entscheiden, ob Sie weitermachen wollen, schreiben wollen oder nicht.«
Der Brief spornte uns an. Alle gaben eine Arbeit ab. Viele Geschichten hatte man auch mir erzählt; aber nur eine schrieb ich auf. Die konnte zu Ende geschrieben werden. Die Geschichte hinter der Geschichte noch lange nicht. Sie war noch lange nicht vergangen.
Wann ist etwas vergangen? Auschwitz war vergangen. Fast zwanzig Jahre. Wirklich erst zwanzig Jahre? Oder doch schon zwanzig Jahre? Länger, als ich auf der Welt war.
Immer wieder hatte ich gehört und gelesen, die Vorgänge in Auschwitz seien ein Rückfall in finsteres Mittelalter. Doch dass sie Menschen gequält hätten wie im Mittelalter, hätte jeder der Angeklagten von sich gewiesen.
Im letzten Jahr der Realschule hatten wir auf unserer Klassenreise zu den Altären Riemenschneiders auch das Foltermuseum in Rothenburg besucht, hatten Knieschrauben, Hand- und Fußeisen, gedornte Halskrausen, die Eiserne Jungfrau, Streckbank und Judaswiege, den Befragungsstuhl und die ausführlichen Beschreibungen ihrer Anwendungsweisen mit pennälerhaften Witzeleien von uns ferngehalten. Graue Vorzeit, hatten wir uns wohlig gegruselt, und mit unseren schlauen fünfzehn Jahren auf unsere barbarischen Vorfahren geschaut wie Erwachsene auf ungezogene Kinder. Mit diesem Gefühl historischer Nachsicht, der Nachsicht, die die Zeit verleiht.
Wir verließen das Museum in dem überlegenen Gefühl, dass so etwas nie wieder geschehen könnte, und der Englischlehrer hatte jedem eine fränkische Bratwurst spendiert.
Wann also war etwas vergangen, vorbei?
Wenn es unpersönlich geworden ist, wenn es kein Leid und keine Freude mehr bereiten kann, weder einem Volk noch einer Person? Wenn sich die Vergangenheit sozusagen vornehm und ermattet zurücklehnt, in einer sachlich gewordenen Vollendung,
durch eine luftleere Schicht getrennt vom Leben der gegenwärtigen Menschen?
In einem Dorf am Rhein nannte ich den Aufsatz und stellte ein Zitat von Goethe voran: »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, / Musst ums Vergangene dich nicht kümmern.« Ich konnte kein Ende finden. Lenchen Herz, et Häze Lensche, wuchs mir ans Herz, schlug dort Wurzeln, erblühte, als hätte nicht die Mutter, vielmehr ich selbst mit ihr auf der Schulbank gesessen, hätte das lustige Mädchen bewundert, wäre mit ihr älter und erwachsen geworden. Lenchen - mit Leib und Seele war ich dabei, als sie den großen, blonden Heinz heiratete, der zuerst bei den Nazis mitmachte, später, da er nicht von Lenchen lassen wollte, an die Ostfront geschickt wurde. Fiel. War dabei, als Dondorfer Hände zum Hitlergruß hochflogen, der katholische Frauenverein sich spaltete, weil man Lenchens Mutter ausschloss. War Zeuge, als Beilschlag, der auch den Pastor Böhm hatte abholen lassen, die Handvoll jüdischer Dondorfer, darunter auch Lenchens Eltern, aus dem »Judenhaus« abtransportieren ließ. Lenchen war da schon mit zwei Koffern und unbekanntem Ziel aus Dondorf verschwunden. Ein Paar elegante weiße Handschuhe habe sie ihr, meiner Mutter, zur Hochzeit geschenkt, schrieb ich. Seite um Seite füllte ich, Heft um Heft, als müsse ich beides gleichzeitig tun: die furchtbaren Jahre heraufbeschwören und mir von der Seele schreiben. Von Lenchen, ließ ich die Mutter erzählen, kam nach dem Krieg eine Karte. Mit Wolkenkratzern und einer Riesenfrau, die Fackel hoch überm strahlenbekränzten Kopf, auf der Rückseite nur die drei Worte: »Euer Häze Lensche.«
Rebmann bat mich, nachdem er uns die Arbeiten zurückgegeben hatte, in der Pause zu sich. Er sah noch immer blass aus, bedrückt, wirkte verschlossen, in sich gekehrt, wie verschnürt. Seine Rechte presste die Blätter meiner Jahresarbeit auf das braune Holz des Lehrerpults. »Ja, so könnte das gewesen sein,
in Dondorf am Rhein. Als wären Sie dabei gewesen. Gut zugehört.
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