Aufbruch - Roman
verdrießen; / Musst stets die Gegenwart genießen, / Besonders keinen Menschen hassen / Und die Zukunft Gott überlassen.«
»Genau so«, nickte Rebmann. »Das Zitat ist richtig. Und die ›Lebensregel‹? Die auch? Was meinen Sie?«
Es gongte zur Pause.
»Augenblick«, Rebmann schlug seinen Goethe-Band noch einmal auf. »Hier, noch etwas zum Mitschreiben und Diskutieren, vom selben Dichter: ›Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte; es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muss stets produktiv sein, ein neues Bessres zu erschaffen.‹«
Die Anhörung der Zeugen nahm kein Ende. Mehr als dreihundertfünfzig Opfer standen zweiundzwanzig Angeklagten gegenüber, die kaum Gefühle zeigten, von Reue ganz zu schweigen. Sie hatten entweder nichts »davon gewusst« oder nur nach den Vorschriften gehandelt, Befehle ausgeführt.
»Hoffentlisch kriejen se, wat se verdient han«, verkündete der Vater beim Sonntagsessen und strich sich mit gestreckter Handkante über den Hals. »Rübe ab, alle zweiundzwanzig. Jibet ja leider nit. Aber wenigstens lebenslänglisch.« Und die Familie nickte in seltener Eintracht, sogar die Großmutter.
Doch das »lebenslänglich« sei gar nicht so einfach, sagten die Experten. Das deutsche Strafrecht, wie jedes Strafrecht der Zivilisation, erklärten sie, kenne nur Einzelverschulden. Es gehe zurück auf das deutsche Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das nur die Tat des Einzelnen ahndet. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und organisierter Massenmord wie in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern sei damit nicht beizukommen. Nur ein Nachweis der Einzelschuld zähle. Und überdies: Totschlag könne nach achtzehn, Mord nach zwanzig Jahren nicht mehr angeklagt und bestraft werden. Verjährung.
In der Altstraße waren wir uns einig: Mord bleibt Mord. Strafe muss Strafe bleiben. Keine Verjährung. Die Tante kam kaum noch zu uns.
Dagegen brachte die Großmutter den Ohm bei seinem nächsten Besuch, nachdem der sich an Kassler, Sauerkraut und Kartoffelbrei gelabt und einen wohlwollenden Blick auf meinen züchtig die Knie verhüllenden Rock geworfen hatte, sichtlich in Erklärungsnot. Er war hinfällig geworden; der ehemalige Afrika-Missionar verließ das Kloster in Hünfeld nur noch selten für einen Besuch bei seiner Schwester. Ob es nicht Gott wohlgefällig sei, um ein Lebenslänglich für alle zu beten, fragte sie den priesterlichen Bruder mit fester Stimme. Den Kopf bedenklich von einer Seite zur anderen wiegend, ließ der sich eine zweite Portion vom Pfirsichkompott schmecken und erging sich in Ausschweifungen über Gottes Gnade und Gerechtigkeit, denen der Mensch nicht vorzugreifen habe. »Mein ist die Rache, spricht der Herr. Mein ist die Rache«, wiederholte er, froh, sich auf bibelfesten Boden gerettet zu haben. Der Mensch solle Gott nicht in den Arm fallen, auch nicht im Gebet. Reiche Gott die irdische Strafe nicht aus, ergänze er sie nach göttlichem Ratschluss im Himmel. Ewige Hölle.
»Und wenn sie im letzten Augenblick bereuen?«, fragte Bertram, der verdrossen beobachtete, wie die Priesterhand zum dritten Mal die Kelle in die Pfirsichschüssel senkte, nachdem die Großmutter unsere Dessertteller schon beim Abwasch aufgestapelt hatte. Für so einen Klehr, dem man vierhundertfünfundsiebzig Morde nachgewiesen habe, sei doch lebenslänglich viel zu gnädig.
Wie recht Bertram hatte. Dieser Unmensch, der vom »Abspritzen« der Kinder gesprochen hatte, als spritze er Rosen gegen Mehltau. Wenn so einer nun mit dem letzten Atemzug bereue, käme der in den Himmel?
»Fegefeuer!«, rief der Ohm triumphierend und schob seinen Kompottteller von sich. »Wenn«, er machte eine Pause und wies mit gestrecktem Zeigefinger auf das Kruzifix über der Eckbank, wo zu seinen Ehren das Öllämpchen brannte. »Fegefeuer!«, wiederholte er schelmisch, »wenn«, er zog den Finger zurück, »wenn sie katholisch sind!«
Ungläubig starrten wir den Geistlichen an.
»Jawohl«, bekräftigte der. »Evangelische haben kein Fegefeuer. Die kommen direkt in die Hölle.« Aufgeräumt klopfte sich der Ohm den Bauch, als wäre das der Ort, wo die armen Sünder schmorten.
»Oder in den Himmel!«, wandten Bertram und ich wie aus einem Munde ein.
»Vun dänne Dräckskääls kütt kenner en de Himmel!« Die Mutter hatte vor Erregung ihr Hochdeutsch vergessen, um das sie sich in der Gegenwart des Kirchenmannes sonst
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