Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
fühlte mich liegen auf grünem Gras, fühlte, was mich umgab, wie durch eine feuchte, schwere Decke. Mein Körper eine pelzige Empfindung bis unter die Haarwurzeln. Ich fuhr mit den Händen am Körper entlang, ja, ich war noch da, gedankenlos, empfindungslos. Dann aber knallte es in mein Hirn. Ich war ja nackt! Alles war wieder da, wirre Bilder zuckten durch meinen Kopf, das Auto, die Männer, die Frau, die Flasche, der Lappen. Und Gesichter, Gesichter wie in Träumen, grausige Unbestimmtheit, bleich und geschlechtslos, blasse, schielende Augen. Nackt. Ich krümmte mich unter diesen Blicken zusammen und wusste doch, ich musste sie öffnen, die eigenen Augen öffnen. Die Gesichter verblassten und heraus blühten Glockenblumen, büschelweise tiefes Blau aus dem grünen Gras. Die Blumen waren wirklich da. Ich war allein. Auf einer morgendämmrigen Lichtung im Wald. Weinen befahl ich mir, jetzt musste ich doch weinen, doch statt der Tränen krampfte sich Lachgerassel in mir zusammen, platzte aus mir eine Lachlawine, es lachte mich tot, aber ich lebte ja, ich war ja noch da. Und dann kam der Schluckauf, erst sachte, dann immer erbarmungsloser, grausam, tyrannisch; ich hielt die Luft an, schluckte, der Schluckauf war stärker, schleuderte den Fusel hoch, aus dem Magen, die Kehle hinauf ins grüne Gras, Schluckauf und Fusel, aber Tränen, Tränen kamen nicht. Ich tastete nach meinem Hals. Das Kreuz der Mutter hing noch da.
    Die Sonne stieg höher, warf schräge Strahlen zwischen die Baumstämme, das Erbrochene roch scharf und säuerlich, ich kroch ein Stück weiter. Da lag mein Kleid. Zusammengefaltet lag es bei den Goldruten, die ein Morgenwind bestrich. Daneben auf Marias Bettjäckchen das weiße Kaninchen starrte mich mit Augen aus Glas und langen gestickten Zähnen an. In den Pfoten eine Packung Papiertaschentücher. Ich riss ein Tuch aus
der Packung, schleuderte das Tier in die Büsche, stopfte mir das Tuch in den Mund, nichts half gegen diesen Schluckauf, der meinen Körper zusammentrat.
    Es wurde heller, wärmer, ein klarer Tag brach an, Sonnenaufgang mit satten purpur und rosa Schattierungen. Mir graute, die Kleider zu berühren, die Kleider von gestern; mit den Kleidern wäre ich wieder in der Wirklichkeit, sie machten mich zu einem Teil der wirklichen Welt, in der mich Menschen fragen würden: Wo bist du gewesen? Was hast du gemacht?
    Nimm ein Taschentuch, befahl ich mir, nein, nicht in den Mund, zwischen die Beine damit, nein, nicht zwischen die Knie, höher hinauf, du verstehst mich doch längst, noch höher. Die Hand gehorchte mir nicht. War, das Tuch über die glatte Haut der Unterschenkel, der Knie voranschiebend, an klebrig Feuchtes geraten, an Dunkles, nicht Geheuerliches. Die Hand stockte. Weiter, befahl ich, nahm die Linke zu Hilfe, führte die Rechte weiter die Schenkel hinauf, bis das Papier den Spalt zwischen den Schenkeln berührte. Lange hielt ich die Hände, das Papier, dort fest, ohne zu pressen, einfach liegen lassen wollte ich es, was nicht leicht war, da sich Schenkelmündung, Hände und Papier mit jedem Schluckauf ineinanderdrängten. Ich warf das zerknüllte Tuch weit von mir, hielt mir Augen und Ohren zu, krümmte mich zusammen. Das Gesicht zwischen den Knien, ließ mich ein fremder, feindlicher Geruch auffahren, ein Geruch, wie ich ihn von dem seifigen, ölverschmierten Drillich des Vaters kannte, der von Samstagabend bis Montagmorgen in einer Zinkbütte eingeweicht wurde. Stieg er zwischen meinen Beinen auf, drang er aus meinem Leib hervor? Ich schauderte zusammen, der Schluckauf knallte meine Stirn auf die Kniescheibe, noch mal und noch mal, wollte etwas fühlen, etwas Wirkliches, Bekanntes, wollte Schmerzen spüren, die ich kannte, Schmerzen, für die ich einen Namen hatte, alles wollte ich spüren, nur nicht diese Fremdheit in mir.
    Doch immer mehr Buchstabenfolgen fanden zurück in meinen Kopf, unsinnig leere Schoten, Letternreihen, die wie Wörter
aussahen, sinnlose Bündel, Buchstabenwirbel. Einige blieben stehen, formten sich und gewannen Bedeutung, die leeren Hülsen füllten sich, aus Buchstabenknäueln wurden Wörter, und mit den Wörtern kam die Panik.
    Die Dinge beim Namen nennen. Das durfte nicht sein. Immer wieder stieß das eine Wort nach oben, von der Schenkelmündung den Leib hinauf in die Kehle, ich stieß es zurück. Andere Wörter gewannen den Kampf. Seife war das erste Wort, das mir ins Bewusstsein drang, Seife für den Geschmack in meinem Mund, Seife, dachte ich, was

Weitere Kostenlose Bücher