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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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nähern könnte wie vor dieser Nacht? Froh musste ich sein, dass der Professor die Dichterworte eingekapselt hatte, sichergestellt im Mausoleum der Wissenschaft, sicher- und kaltgestellt in Konstruktionen und Funktionen, in Emblemen und Systemen, Prämissen und Konklusionen. Von Germanistik dieser Art hatte ich nichts zu befürchten.
    Ich war mir im Klaren, mit mir im Reinen. Ich wollte Wissen. Dieses Wissen. Wissen, das mich nicht betraf, mich nicht traf. Das Wissen der Welt gegen das Wissen um die Lichtung. In der Wissenschaft würde mir die Lichtung nirgends begegnen. Hier war ich sicher. Solange ich mich abseits hielt. Fern von den frohen Menschen im Gras, äußerlich eine von ihnen, doch durch die Lichtung auf immer von ihnen geschieden. Ich ließ den Blick noch einmal über das Gewimmel auf der Wiese kreisen. Könnte meine Brote auspacken oder in der Mensa meinen Freitisch probieren. Das Eichendorff-Proseminar begann erst um drei. Ich machte mich auf den Weg zum Essen. Kreischend kam die Straßenbahn Richtung Bahnhof an der Haltestelle zum Stehen. Ich rannte bei Rot über die Straße und stieg ein.
     
    Auf dem Domplatz hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ich schlängelte mich nach vorn. Ein Mann, sehr bleich, aber kräftig gebaut, in Trikot, Badehose und Turnschuhen, stemmte schwere Gewichte über seinen Kopf, seine Muskeln traten hervor, sein Körper schweißglitzernd. Als er fertig war, ging ein kleiner Mann durch die Reihen und sammelte. Der Große lehnte am Laternenmast und atmete schwer. Er sah sehr einsam aus
dort, allein und fast nackt. Er schaute nichts und niemanden an, schien die Zuschauer gar nicht zu bemerken.
    Zwei Männer aus der Menge machten sich daran, den Mann über und über mit starken Seilen zu verschnüren, bis er weder Hände noch Füße rühren konnte. Einen Augenblick verharrte er bewegungslos. Dann schloss er seine Augen und begann, sich gegen die Seile zu dehnen. Schweiß perlte von seiner Stirn, blau und dick quollen die Halsadern unter der Haut. Langsam, kaum sichtbar zuerst, dann kräftiger, zuckte er mit den Schultern. Die Seile schnitten rote Striemen in das bloße Fleisch. Einen verzweifelten Moment lang schien mir, er würde es niemals fertigbringen, sich zu befreien, doch dann hielt er inne, spannte sich, drehte sich scharf und befreite einen Arm. Der Rest ein Kinderspiel.
    »Als Nächstes macht der dat mit Ketten«, sagte jemand.
    Wirklich wurde der Mann mit Ketten umwunden, schweres Eisen, wie vor den Scheunentoren auf dem Hof des falschen Großvaters.
    Seinen ganzen Körper einsetzend, rutschte der Mann plötzlich aus und fiel, ein brutales Geräusch von Eisen auf Stein. Lag da, vor unseren Füßen, starr wie eine kaputte Puppe.
    »Dä is fädisch«, sagte die Frau neben mir. »Dä kütt nit mehr hoch.«
    Doch der Mann auf dem Pflaster begann sich zu winden, zu krümmen. Flatterte auf seinem durchgebogenen, straff gespannten Rücken wie ein Fisch auf dem Trockenen. Rollte sich auf den Bauch, und nun konnte ich das Blut auf seinen Lippen sehen und die fanatische Konzentration in seinen glasigen Augen. Fühlte meinen eigenen Körper sich spannen im Rhythmus seines Kampfes gegen die Ketten und kämpfte mit. Zuerst kam ein Arm frei, dann, langsam, langsam, der andere, schließlich, sich aufsetzend, wand er seine geschundenen Beine aus dem Eisen. Während sein Kompagnon wieder den Hut herumreichte, saß er da, schaute auf seine Beine, lächelte ein bisschen. Stand auf und ging.

    Noch immer saß der Bettler beim Stand, wo ich vor wenigen Stunden meine Zeitung gekauft hatte. Noch immer lag sein Hund reglos neben ihm und schlief mit weggestreckten Beinen. Der Mann hatte sein Hosenbein hochgekrempelt und zeigte ein offenes Bein, eine schwärende Wunde, flammendrot, an den Rändern eitriggelbe Krusten. Daneben eine schmuddelige Kappe, zwei Groschen drin.
    Vom Rhein wehte die Musik eines Leierkastens herüber, unregelmäßig gekurbelt, zwei, drei Takte des Refrains, »wenn isch so an ming Heimat denke«, Pause, dann ein paar sich überstürzende Töne, denen ein langgezogenes »isch möösch ze Foß noh Kölle jonn« folgte, wieder von neuem »noh Kölle jonn«, kurzatmig, zusammenbrechend, immer wieder beginnend, die Stimme des Professors in meinen Ohren verband sich mit den auf- und abschwellenden Tönen, stieg auf und versank immer wieder im Refrain, »noh Kölle jonn!«.
    Eine ärmlich gekleidete alte Frau stocherte in einem Papierkorb, dann in einem zweiten; ich ließ die

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