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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Aktentasche aufschnappen: »Bitte sehr«, sagte ich. »Ganz neu. Von heute.« Die Frau wich einen Schritt zurück, raffte ihre sackförmige Tasche an sich und fauchte etwas Unverständliches. »Von heute«, wiederholte ich und hielt ihr den Kölner Stadt-Anzeiger weiter entgegen. Die Alte zog den Sack bis unters Kinn und knurrte, den Blick verächtlich auf die Zeitung gerichtet: »Wat soll isch dann do mit? Isch söök Fläsche!« Dann in einem Tonfall äußerster Verachtung: »Papier!«
    Auf der Treppe zum Bahnsteig kam mir eine Frau, umtanzt von einem grauen, frisch getrimmten Pudel, entgegen. Selbst das Hündchen schien meiner zu spotten, wandte sich, kaum dass es mich eines Schnüffelns gewürdigt hatte, von mir ab. Oben reckte eine schwitzende schwarzgekleidete Pilgerin ein Pappschild hoch: »Reisende nach Lourdes hier sammeln.«
    Ich war noh Kölle gegangen. Und nun? Was ist ein Frühlingsnachmittag, wenn dat Kenk vun nem Prolete nach der ersten Vorlesung seines Lebens im Zug sitzt, einem Nahverkehrszug, dem Zug nach Hause, nach »jlöv jo nit, dat de jet Besseres bes«.
Geschlagen war ich, ja. Besiegt, nein. Ich ließ die Satzbrocken in meinem Kopf wie Stoßgebete kreisen: Der pathetische Held ist unbedingt, isch möösch ze Foß noh Kölle jonn, in alldem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende Kraft. Wenn isch so an ming Heimat denke. Polla ta deina.
    In den Abteilen staute sich abgestandene Luft. Die Menschen hielten die Augen halb geschlossen und überließen sich mit offenstehenden Mündern und auseinanderfallenden Knien dem Rütteln des Zuges. Von Zeit zu Zeit gab sich einer von ihnen der Wonne des Gähnens hin, eines bis zum Würgen ausgedehnten Gähnens. In der Ecke beim Fenster saß ein dicker Mann in Anzug und Weste, die Krawatte kaum gelockert, schnarchend, zusammenhanglose Botschaften aus dem Inneren des Schlafes in das gleichförmige Rattern der Räder. Durch die machtvollen, auf- und abschwellenden Synkopen der Rachenlaute die Stimme des Professors, die »Bekundung einer machtvollen dichterischen Substanz«. Ich hielt mein Gesicht in die Sonne, schloss die Augen, kniff sie zusammen, bis rotglühende Kringel hinter den Lidern zu kreisen begannen, ich kreiste mit ihnen, weg von pathetischen Helden, in Ketten und ohne, Bettlerbeinen, dem Dom ze Kölle. Doch gerettet fühlte ich mich erst, als sich die Bustür nach Dondorf für mich öffnete und der Fahrer, einer von denen, die schon die Straßenbahn bedient hatten, mich mit »Tach, Heldejaad. Has de es schon jeschafft?« begrüßte und mir einen Drops anbot. Er schmeckte nach Schaffneruniform.

    Der Vater war schon aus der Fabrik zurück; sein Fahrrad lehnte am Zaun, er würde noch einmal aufbrechen, in den Garten des Prinzipals. Ich reckte mein Kinn und öffnete das Tor.
    Die Küchentür stand offen, die Stimme der Tante erreichte mich schon beim Holzstall, undeutlich, dann ein Aufschrei der
Mutter: »Nä, dat kann doch nit wohr sinn!« Und die Großmutter, deren Stimme brüchig zu werden begann, steuerte ein entrüstetes »Jesusmaria!« bei.
    Ich drückte mich am Schuppen entlang, wo der Vater in den Werkzeugen kramte, und blieb an der Treppe zur Küche stehen.
    »Un die Täsch!«, so die Stimme der Tante, »wor widder do!«
    »Nä!«, die Mutter.
    »JelobtseiJesusChristus«, die Großmutter.
    Pause. Dreimal Plopp auf die Wachstuchdecke, drei Tassen wurden abgestellt. Untertassen hatte ich mit meinen Maßnahmen zur Veredelung der Sitten nicht durchsetzen können. Untertassen standen noch immer auf einer Stufe mit Spargelköpfen: Nix für usserens.
    »Jo!«, das war wieder die Tante. »Die Täsch wor do.«
    Pause. Räuspern. »Ävver leer!«
    »Nä sujet!«, die Mutter.
    »Dä Düwel«, die Großmutter.
    »Jitz verzäll ävver ens vun Anfang an!« Die Stimme der Mutter kribbelig vor Erwartung.
    Aber die Tante hatte wie alle Erzähler der Welt alle Zeit der Welt. Ihrer Sache gewiss, der Bedeutung der Sache gewiss, hub die Tante an, nicht anders als homerische Rhapsoden mochten begonnen haben: Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt nach des heiligen Troja Zerstörung. / So auch rief die Tante zu Zeugen all die Besucher des Kirchhofs, / die sich gemeinsam mit ihr bei Gräbern und Tasche befunden. / Sage hiervon auch uns ein weniges, Tochter Kronions, / Berta Labkasen, Tochter der Anna Rüppli und des seligen Fritz.
    Die Stimme der Tante vertrieb die des Professors endgültig aus meinem Kopf. Diese Stimme war

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