Aufbruch - Roman
nä, nit die vum Künnig, die vum Wirsing. Gewissenhafter als die Tante die Spürnasen auf dem Dondorfer Friedhof hat nie ein Rhapsode die Helden hehrer Taten aufgezählt. Alle, eine nach der andern, hätten sie Grabstein und Wacholder unter die Lupe genommen, und das nicht nur auf Wilhelm Dückers Grab, »öwwer dä janze Kerschhof sin mer jekroche, vom juten Hirten auf dem Pastorengrab bis zu de Russenjräber, hinter jede Stein und Busch. De Täsch wor fott!«
De Täsch wor fott! Der pathetische Held ist unbedingt. Die Sätze der Tante, ihr kräftiges Platt: das Leben selbst. Die Bekundung einer machtvollen dichterischen Substanz. Die gelehrte Sprache des Professors erinnerte an aufgespießte Schmetterlinge.
Große Aufregung, so die Tante, natürlich, was sonst. Wo war die Tasche? Ja, doch mehr noch brachte alle die Frage in Wallung: Wer hatte die Tasche? Wer hatte sie - »jeklaut hätt kenner jesät. Mer sachten alle: mitjenomme. Und dat fromme Liesjen Bormacher meinte sojar noch, vielleischt aus Versehen. Oder: Bloß stickum verstopp. 55 Jong, ävver däm han mer Zunder jejowwe. Als wenn ener en Täsch verstecke dit.« Die Tante lachte, oder ächzte sie? Froh klangen die kehligen Laute, die an mein Ohr drangen, nicht.
Also hätten sie sich doch schließlich fragen müssen: Wer war der Dieb? Hatte jemand eine verdächtige Person gesehen? Allgemeines Kopfschütteln. Zunächst jedenfalls. Doch dann hätten alle angefangen, sich gegenseitig zu mustern.
»Also, wie dat Schmitze Billa mesch do anjelurt hätt«, empörte sich die Tante noch im Nachhinein. »Direkt unverschämt hätt dat jefragt, ob mer schon en de Leischenhalle nachjelurt han! Jong! Däm han isch et ävver jejävve! En däm singe Lade ben
isch zeletzt jewese! Dat süht mesch in singe Lade nie widder!« Entrüstetes Schnaufen bis zu meinem Lauscherposten.
Pause.
Kaffee plätscherte in eine Tasse. Kaffee, mit einem Geruch nach schwarzer Schuhwichse. Ich fühlte die Brühe auf der Zunge: dünn und süß und bitter, mit einem langen Nachgeschmack, der an Herrenschokolade erinnerte.
»Dat hätt et nüdig!«, bekräftigte die Mutter die Worte der Schwester. »Dat met singe Kääls!«
»Jo«, sagte die Tante. »Ävver von uns konnt et ja auch keiner sein.« Und dann hatte plötzlich doch jeder einen jesehen. Die Frau Apotheker zuerst. Bei den Russengräbern sei ihr einer aufgefallen. Klein und schwarz, so was sehe man sonst nur im Zirkus. Und dat Pütz Mariesche hatte eine dicke Frau mit Kinderwagen ausgemacht. Viel zu alt für ein Kind, aber in so einem Wagen viel Platz für eine Tasche. Jede der Frauen, so die Tante, habe irgendetwas an den Haaren herbeigezogen. »Kokolores! Isch han nix jesinn!«
Schließlich seien die Frauen nach Hause gegangen, alle Mann hoch Richtung Ausgang und das Minchen statt zum Bötsch zur Polizei. Sie selbst habe noch mal in die Leichenhalle zurückgemusst: »Isch war noch bei de Finster.«
Die Tante unterbrach sich, ein Schlag aufs Wachstuch. »Kennt ihr den? Treffen sisch zwei Putzfrauen an ihrer Arbeitsstell. Sacht die eine: ›Isch mach jetzt Diät.‹ Sacht die andere: ›Un isch de Finster.‹«
»Berta!« Die empörte Stimme der Mutter. »Mach nit so en Jedöns. Spann us nit op de Folter!«
Ein Stuhl ächzte. Die Tante fuhr fort. Lange habe sie aber nicht mehr gebraucht, höchstens eine halbe Stunde. Auf dem Heimweg sei sie noch einmal an Minchens Grab vorbeigegangen und …
»Da war die Täsch!«, schnitt ihr die Mutter das Wort ab.
»Wat du nit sachst! Verzällst du oder isch?«, die Stimme der Tante. Höchst unwillig.
Pause. Der pathetische Held ist unbedingt. Vor meinen Augen das nackte Beinstück des Professors, das zurückgepfiffene Gesicht der Mutter.
»Also«, fuhr die Tante fort. Hinter dem Wacholder wie immer. Sie direkt darauf zu. Da habe die Tasche gestanden. Braun und schäbig. Und leer.
Befriedigtes Seufzen von Mutter und Großmutter. In der Versöhnung beruhigen sich der Dichter und sein Publikum.
»Noch en Tässjen, Berta?« Offenbar wollte die Mutter ihren Vorwitz wiedergutmachen.
»Noch nit!«, gab die Tante zurück. »Jetzt kommt dat Dollste! Isch mit dä Täsch op de Polizei. Do war aber nit dä Firnebursch. Do war einer, den isch noch nie jesinn han. Sät dä för mesch: ›Und Sie sind sicher, dass die Tasche leer war?‹ Isch han jar nit jemerkt, wo der drauf raus wollte. ›Sischer dat, sach isch: Die Tasch war leer.‹ Und der darauf: ›Und woher wissen Sie das mit der
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