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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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eins mit dem, was sie verkündete, verdoppelte das Gemeinte, unterstrich es, brachte das Abstrakte, das Vorgestellte, sinnlich zum Ausdruck, gab den Wörtern die Dinge zurück, die Täsch war eine Tasche, die Tasche der Taschen, und was damit nun geschehen würde,
ließ die Tante über den Umweg unserer Ohren vor unseren Augen ablaufen, machte das in den Wörtern abstrakt gewordene Geschehen, den Sinn, wieder zu einem sinnlichen Vorgang, verständlich und nachfühlbar für jeden Zuhörer. Die Stimme der Tante eins mit sich und dem Geschehen, dem Geschehenen in der Welt. Der Welt in dr Täsch in dr Kösch, Altstraße 2.
    Die Tante sprach vom Leben. Der Professor von Büchern über Bücher, was wiederum ein Buch ergeben würde, wobei sich das Leben immer weiter aus den Büchern zurückziehen würde, verdünnen würde. Ich machte es mir im Schatten der Hauswand auf der untersten Treppenstufe bequem.
    Eine Busreise, so die Tante, habe Minchen Dücker bezahlen wollen. Aha, Minna Dücker war die Besitzerin der Tasche, ich kannte die kleine quirlige Person, die bis zu ihrer Rente in der Bäckerei Haase bedient hatte. Welche Busreise? Die Busreise nach Holland, ergänzte die Tante. Das habe ihr Minchen auf dem Friedhof erzählt. Ja, aber warum war Minchen auf dem Friedhof? Sie habe sich einen Weg sparen wollen, zuerst auf den Friedhof, Blumen gießen auf dem Grab von Willem - auch ihren Mann hatte ich gekannt, Fahrer bei der Brauerei -, und dann zu Bötsch, bezahlen. Von den Bauformen des Erzählens, von überpersönlichen Stilkräften und rhythmischen Zäsuren hatte die Tante offenkundig keine Ahnung, ziemlich wirr ging sie ihre Sache an, doch von Mutter und Großmutter kamen keine Nachfragen; auch bei allem Durcheinander war klar, was passiert war. Minchen hatte, »wie dusent Mal!«, so die Tante, die Gießkanne hinter dem Wacholder auf Wilhelms Grab hervorgeholt und die Tasche dort stehen lassen, »wie dusent Mal vorher!« »Dusent Mal!« Das würde die Tante durch eine weit ausholende Geste noch verdoppeln.
    Ich sah die Tasche vor mir. Ein schäbiges Lederstück, braun gefleckt, von der Einkaufs- zur Friedhofstasche degradiert, in der nun auch Blumentöpfe und Setzlinge transportiert wurden.
    Hinterm Wacholder also stand diese Tasche, während Minchen mit der Gießkanne zur Zapfstelle bei der Leichenhalle
ging. Die Halle sei leer gewesen, so die Tante, die jetzt in Fahrt war, eins folgte aufs andere, consecutio temporum perfekt befolgt, schlechte Zeiten für dä Böcker - der Leichenbestatter hatte auch für den Großvater den Sarg geliefert -, seit drei Wochen keine Toten, für sie bequem, da gab es nicht so viel zu putzen, daher habe sie auch Zeit gehabt, mit Minchen jet zu verzälle. »Et war ja so jlöcklisch, ens erus ze kumme. Et wor jo noch nie wigger wie Bensbersch. Un en Enkelsche is jo jitz och ald do! 53 «
    Die Tante fuhr noch eine Weile fort, Minchens Glück in kräftigen Farben auszumalen, eine Abschweifung nur auf den ersten Blick, de facto jedoch ein probates Mittel, die Fallhöhe in die Misere raffiniert zu steigern, bis ein Stuhl zurückgeschoben wurde und unsichere Schritte - das war die Großmutter - sich in Richtung der Toilette entfernten. Man darf es eben nicht übertreiben mit dem Aufbau der Spannung.
    »Dat wöt immer schlimmer«, hörte ich die gedämpfte Stimme der Mutter, und die Tante darauf: »Dat kann noch schlimmer wäde. Dann muss de Mamm en Botz met Windele 54 krieje.«
    Abschweifung, Nebenschauplatz, Zukunftsverweis.
    »Du leewe Jott«, seufzte die Mutter. »Still. Se kütt!«
    Erneutes Stühlerücken. Dann wieder die Tante: »Isch mach et kurz. Dat Minsche maat de Kann voll und jeht zeröck an dat Jraw. Un wat meent ihr? Die Täsch wor fott! Die Tasche war weg! Räts ne Wacholder, links ne Wacholder, dozwesche dä Jrabstein. Ken Täsch. Keine Tasche!«
    »Wie dä Blitz«, so die Tante, die sich, die Bedeutung ihrer Worte durch gelegentliches Hochdeutsch unterstreichend, auf dem Stuhl zurechtzurücken schien, das Krachen des alten Möbels drang bis zu mir durch; wie der Blitz sei Minchen wieder zu ihr gelaufen, »met nem Kopp wie en Tomat. ›De Täsch, ming Täsch!‹«, habe sie geschrien, und: »Fott! Fott!« Weg sei die
Tasche gewesen, und den ganzen Kirchhof hätten sie abgesucht, nit nur mir zwei, alle auf dem Friedhof hätten ja das Geschrei gehört. Dat Schmitze Billa und dat Pütz Mariesche, dat Fringse Lore und dem Jüpp sing Frau, wie hesch se noch? De Frau vom Apotheker,

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