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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Jeldbörse?‹ Jeldbörse!« Die Tante lachte bitter. »Isch zu dem: ›Dat Pottmanee war doch weg. Mit der janzen Rente. Einhundertzweiundvierzig Mark!‹ ›Ja, und woher wissen Sie, dass eins drin war? Und woher kennen Sie den Betrag so genau?‹ Da hat et mir langsam jedämmert!« Ein Faustschlag auf das Wachstuch, als platsche ein großes Tier ins Wasser. Der pathetische Held ist unbedingt. »Dä Kääl hat misch! Misch! In Verdacht!«
    Pause. Schweigen.
    »Berta!«, die Mutter. Blankes, lustvolles Entsetzen.
    »Jesusmaria!« Die Stimme der Großmutter kippte.
    »So!« Ich sah geradezu, wie die Tante sich aufrichtete, zurechtrückte und nach der Tasse griff. »Jetzt wisst ihr Bescheid. Isch bin sofort hierher. Er sachte noch, isch soll misch bereithalten. Et wird ermittelt.«
    Von der Tante konnte man lernen, was Erzählen ist. Diese Mischung aus scharfer Beobachtung und dem täglichen Berichten der Ereignisse und Begebenheiten des Tages, vulgo Dorfklatsch, war die Basis aller Erzählkunst. Der vertraute Alltag wird zur Geheimnisgeschichte, wenn der Erzähler dem Alltag
sein Geheimnis entlockt. Das Geheimnis in den Alltag zu locken: ein Verfahren, das Brecht, wie ich später lernte, Verfremdung nennt. Das Bekannte so erzählen, als wäre es das Unergründlichste, Aufregendste der Welt. Wie kommt es, dass Julchen, sonst die Gewissenhaftigkeit in Person, schon zum zweiten Mal den Pflaumenkuchen hat anbrennen lassen? Warum brauchte der Briefträger bei Specks Kätchen gestern eine Dreiviertelstunde, um ein Paket abzugeben? Mit dem er auch wieder rauskam? Fragen, aus denen sich, angereichert durch Kommentare, Stellungnahmen, Widersprüche, die Geschichten entspannen. Wer schwieg, wurde aufgefordert wie in der Schule: »Nu sach doch auch mal wat!«
     
    Ich löste mich von meiner Treppe und stapfte lauter als nötig die Stufen zur Küchentür hoch.
    Aufgeschreckt sahen die Frauen mir entgegen, tauschten Blicke aus, Blicke der Komplizenschaft, die mich ausschlossen. Verstummten und sahen vor sich hin. Verlegen wie vor einer Respektsperson.
    »Tach zusammen«, sagte ich.
    »Wat komms de denn schon so früh?« Unwille über mein plötzliches Erscheinen stand der Mutter auf die Stirn geschrieben.
    »Tach«, sagte die Tante, in einem Tonfall, den sie früher für Berichte über Marias Krankheit gebraucht hatte.
    Die Großmutter holte eine Tasse aus dem Schrank und klopfte neben sich auf die Bank. »Setz disch. Et is warm.«
    Mutter und Tante schwiegen.
    »Tässjen Kaffe?«, fragte die Großmutter.
    »In der Kann is nix mehr drin!«, sagte die Mutter.
    »Danke, Oma«, sagte ich. »Nur Wasser.« Ich ging zum Spülstein und hielt den Mund unters fließende Wasser, ließ es über Gesicht und Nacken laufen, während die Großmutter knurrend, »mer kann et ihm ävver och nit rescht mache«, die Tasse wieder wegräumte und ihre beiden Töchter hartnäckig schwiegen.

    Ich nahm meine Aktentasche, bloß weg in den Holzstall.
    »Un wat mäs de jitz, Berta?«, fragte die Mutter mit einem Gesichtsausdruck, wie sie ihn annahm, wenn Francis Durbridges Halstuchmörder wieder eine weitere Kehle zugedrückt hatte, und goss sich und der Schwester reichlich aus der leeren Kaffeekanne nach.
    »Wat soll isch mache?«, gab die Tante zurück. »Affwade. 56 Isch hab ein reines Jewissen.«
    »Tante«, drehte ich mich noch einmal um und setzte die Aktentasche ab. »Reines Gewissen ist nicht genug. Du hast doch auch ein Alibi.«
    »Wat soll isch han?«, fuhr die Tante auf. »En Alippi? Wat es dat dann?«
    »Ein Aalibie!«, korrigierte die Mutter stolz und fernseh-kriminalistisch geschult. »Dat is, dat is, wenn andere dabei waren, wenn du et nit warst.«
    »Ja, isch war et doch auch nit!«
    »Stimmt«, sagte ich, »aber das musst du beweisen. Das Minchen ist dein Alibi.«
    »Wieso dat denn? Dat stand doch die janze Zick bei mir.«
    »Eben drum. Alibi ist nämlich Latein und heißt anderswo. Das meint, dass du nicht da warst, als das Verbrechen begangen wurde.«
    »Verbreschen?«, fauchte die Tante.
    »Naja«, sagte ich, »der Diebstahl. Da warst du mit dem Minchen zusammen.«
    »Ahso«, die Tante schlug sich vor die Stirn. »Isch muss nit sage, wer et war; nur klarmachen, dat isch et nit war. Dat ich aliebih war. Woanders.«
    »Genau«, sagte ich und nahm meine Aktentasche wieder auf. »Und das Minchen ist dein Zeuge, dass du woanders warst.«
    »Maria«, die Stimme der Tante nahm ihren selbstbewussten Ausdruck wieder an. »Nu jib dem Kind doch e

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