Aufbruch - Roman
ließ er die Hände gewölbt und nach oben gekehrt wie Waagschalen auf- und niedersinken, als verleihe er den Worten ein schwankendes Gewicht, so, dass ich neugierig wurde und die Ohren wieder dem Sinn der Laute öffnete. N.N. war von der Deklamation zur Interpretation übergegangen und begleitete mit diesen Gesten die Argumente für und wider die Auslegung einer Textstelle, dergestalt andeutend, dass er seines Urteils nicht sicher war. Oder wollte er uns durch vorgespielte Unsicherheit zu einem eigenen Urteil verlocken? Das gelang ihm. Es gelang ihm, mich vergessen zu machen, dass er die Dichtung, ihre Sprache, mit seiner Aussprache befleckte. Sogar dankbar musste ich ihm für diesen Makel sein: Hätte ich einem angemessenen Vortrag dieser herzzerreißenden Verse, der Gefahr einer
Stimme, einschmeichelnd schön und verführerisch wie der Mund, aus dem sie kam, überhaupt standgehalten? Hätte nicht vielmehr ein Schluckauf mich aus dem Saale getrieben, Hörsaal 18, schon in der ersten Stunde, schon bei den ersten Zeilen? Es war dieser Gegensatz, das Unvollkommene, der Makel, der mich hielt. Und zur Dichtung zurückführte. Wenigstens teilweise.
N.N. lehrte mich das wissenschaftliche Lesen. Lesen, ohne Angst zu haben, dass Dichtung die Kapsel sprengen, mich dort erreichen könnte, wo es wehtat. Ein gefahrloses Lesen, das im Kopf stecken blieb. So, als besuche man seinen Liebsten im Gefängnis hinter einer kugelsicheren Glaswand. Man kann ihn sehen, mit ihm reden - über einiges jedenfalls, Belangloses, nie über das Wesentliche: die Befreiung -, aber berühren, riechen, schmecken darf man ihn nicht, einander nicht.
Als hätte man einen Necker-Würfel gekippt, war ein Gedicht, ein Roman plötzlich nicht mehr ein Wunder wie eine Blume, ein Baum. Es war gemacht. Wurzeln, Äste, Maserung sichtbar. Der Zauber abgestreift. Die Blüte seziert. Ähnlich wie damals auf der Pappenfabrik, als die Bücher nicht mehr zu mir redeten, stumm blieben unter spiritus verde. Ich traute mich wieder, mit meinen liebsten Büchern zu sprechen, und sie sprachen auch wieder zu mir, meine Bücher, aber ganz anders als zuvor. Sie bezauberten mich nicht mehr. Waren nicht mehr Erlösung, Offenbarung, Ansporn, Genuss. Sie waren Arbeit und Mühe. Siehst du, wie ich gemacht bin, fragten sie, drängten mir ihr Gerüst auf, ihr Skelett. Nicht mehr reden sollte ich mit ihnen, nachdenken über mich und die Welt. Sezieren sollte ich sie. Und daran Gefallen finden.
Der Trick war einfach. In der Philologie mutierte ein Buch zur »Quelle«. Damit war die Verbindung zum Gefühl zuverlässig gekappt.
Um ein Buch, pardon, eine Quelle zu studieren, bedurfte es der wissenschaftlichen Anleitung. Quellenforschung. Quellen flossen historisch und kritisch, flossen in Gesamtausgaben. War ein Dichter wirklich etwas wert, wurde sein Buch zur
Quelle für Quellen; sein Werk nicht länger schlicht von ihm, vom Dichter, verfasst und vom Verleger verlegt. Herausgegeben vom Herausgeber wurde sein Werk sanktioniert, heiliggesprochen wie biblisches Wort. Es war dann eine Edition. Eine Quellenquelle. War der Dichter mit seinem Werk in den Augen des Quellenwissenschaftlers nicht ganz zu Rande gekommen, machte der sich darüber her und nannte das Ergebnis eine Bearbeitung.
Unabdingbare Begleiter der Quellen waren die Fußnoten. Ohne Fußnoten keine Geisteswissenschaft. Was für Gott das Gebet der Gläubigen, war der Philologie die Fußnote der Philologen. An ihren Fußnoten sollt ihr sie erkennen.
Schafften Gedicht, Erzählung, Drama, Komödie, Tragödie, Roman es nicht, im Auge des wissenschaftlichen Betrachters zur Quelle zu mutieren, schluckte sie »Der Text«. Wie Wasser jeder Art in einen Ozean mündete, endete, was Buchstaben aufwies, im Text. Vor »Dem Text« waren alle gleich. Wie vor Gott. Im Anfang war das Wort und Gott war »Der Text«. Aus Wahrheit und Schönheit, diesen beiden Töchtern des Worts, Text machen: das war - Philologie.
Und der Sinn? Durfte wenigstens nach dem noch gefragt werden? Ja. Aber man musste Belege für ihn finden. Und konnte man das? So gut und so schlecht, wie man Gott belegen kann. Wie sollte ich einen Sinn, den das Kunstwerk allein für mich hatte, mit Textstellen belegen? »Was sagt das Buch mir?«, hatte Rebmann uns zum ganz eigenen Umgang mit der Literatur ermutigt. Nun holte mich die vertrackte Frage »Was will uns der Dichter damit sagen?« mit akademischer Entschiedenheit und im professoralen Fachjargon unerbittlich ein.
Nicht,
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