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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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stand, und Radio Luxemburg hören. Eine von vier Millionen, die sich morgens vom Fröhlichen Wecker in Stimmung bringen ließen.
    »Gibs de dem Kenk denn nix ze esse mit?« Die Großmutter ließ die Herdringe knallen. »Dat kütt doch erst nachmittags heim.«
    Die Mutter schnaufte.
    »Nä, Oma«, sagte ich. »Isch hab doch Freitisch.«
    »Wat es dat dann?«
    »Da jibet dat Esse umsonst«, knurrte die Mutter, »wie bei dä Fürsorje.«
    »Nä!« Die Herdringe klirrten lauter. »Hammer dat dann nüdisch?«
    Ich schnappte meine Tasche. Jetzt war ich froh, als die Tür hinter mir zufiel. Aber meine Füße, die rechtsherum an den Rhein wollten, musste ich zur Bushaltestelle zwingen.
    Und zwingen musste ich mich auch weiterhin. Nichts mehr beflügelte mich. Ja, ich war eine Studentin. Hatte es so gewollt. Aber ich hatte nicht gewusst, was ich gewollt hatte. Der Schuh war zu groß. Der Baum zu hoch. Und was das Schlimmste war: Niemand würde sich darum kümmern, ob ich aufstieg oder abstürzte; niemandem in Aula oder Hörsaal würde auffallen, ob Hildegard Palm aus Dondorf, Altstraße 2, wirklich ihre Vorlesungen und Seminare besuchte oder sich in einem Kaufhaus zwischen Sonderangeboten und Krabbeltischen herumdrückte,
bis die rechte Zeit für den Zug nach Hause gekommen war. Und zu Hause? Niemand würde fragen: Wie war der Tag? Wie ist es dir ergangen? Niemand hatte je so gefragt. Nur Bertram. Doch dem würde ich mit meiner Angst keine Angst machen. Meine Angst nicht mit-teilen. Ich, die große Schwester. Das Vorbild. Ich musste es allein schaffen.
    Also zwang ich mich aus dem Bus in den Zug, aus dem Zug in die Straßenbahn. Haltestelle Universität.
    Ich hatte am Morgen die Kleider gewechselt, meine zweite Hose und eine frische Bluse angezogen, »un usserens muss dat wäsche«, hatte die Mutter geknurrt. Sie hatte recht; aber die Kleider vom Vortag schienen mir getränkt von meiner Flucht. Sogar neue Unterwäsche trug ich. Nur die Schuhe waren die von gestern, ich hatte sie mir nach dem Abitur als Belohnung geleistet. Halbhohe helle Cowboystiefel, die ich mit ähnlicher Andacht pflegte wie die Großmutter ihren Hausaltar, trugen mich Eichendorffs Marmorbild und der Lyrik des jungen Goethe entgegen.
     
    Hörsaal 18, ähnlich gebaut wie die Aula, nur gedrängter, fasste etwa zweihundert Zuhörer. Die steil ansteigenden Sitzreihen waren schon dicht belegt. Ich suchte einen Platz so weit vorn wie möglich, und als der mit N.N. Angekündigte erschien, wurde mir klar, warum fast ausschließlich weibliche Wissensdurstige die erste Reihe besetzten.
    N.N. war ein mittelgroßer, schlanker Mann von etwa dreißig Jahren; das dunkle gewellte Haar länger als einer akademischen Karriere förderlich, und, was noch ungewöhnlicher war, der Hemdkragen offen, was seinen Hals dünn und schutzlos aussehen ließ. Bräunliche Hautfarbe, ins Gelbliche spielend, fein gerötete Wangen; braune Augen, strahlend wie die eines Kindes in der Gewissheit seines Geschenkes. Eine Verkörperung von Schönheit und Glück, als sei er den Seiten einer romantischen Novelle entstiegen und nur, um kein Aufsehen zu erregen, in einen Straßenanzug der sechziger Jahre geschlüpft.

    Ja, er war schön, der Herr N.N. Solange er nicht den Mund auftat. Wie konnte er es wagen, meine geliebte Sprache, meinen Eichendorff, mit seinem ungenierten Schwäbisch derart zu entstellen? Dazu hatte ich nicht Nachmittage lang meine kölsche Zunge dressiert, damit mir hier ein angehender Professor der Germanistik mit derartigen Verzerrungen kam. Ich sah mich um. Niemand schien Anstoß zu nehmen an diesem fleischgewordenen Widerspruch, der, auf der äußersten Kante seines Katheders wippend, einen frisch gespitzten Bleistift in die Luft bohrte, als bohre er sich in die Gedichte und diese in unseren Kopf. Der behäbige Tonfall und die resoluten Gesten standen in ebenso schroffem Gegensatz wie die noble Gestalt zu der ungehobelten Sprache.
    In N.N.s Mund verformte sich die poetische Prosa zur Spöttelei; zugegeben, unbeabsichtigt, doch das machte die Sache nicht besser. Also konzentrierte ich mich auf N.N.s Erscheinung, genoss seine ausgreifenden Gesten, mit denen er ganze Ballen von Luft umfing, sie an die Brust nahm, als erwärme er sie mit seinem Blut, um sodann die Arme mit geöffneten Händen zu beiden Seiten in die Höhe zu werfen, Wissen und Wissenslust wie Leckereien unters Volk verschleudernd bis in die letzte Reihe. Kamelle. Ein Eindruck unerschöpflicher Fülle. Dann wieder

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