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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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gewöhnlich, als habe er nie eine Reise in das Herz des kleinen Josef gemacht, den kleinen Josef nie zur Sprache gebracht. Mit-geteilt. Mit mir geteilt. Ich brauchte Zeit, meinen Teil an mich zu nehmen, sollten die Worte des Vaters sich nicht für immer in gelehrter Rhetorik verpuppen. Irgendwann würden sie schlüpfen, schmetterlingsleicht, so, wie meine Kapsel aufbrechen würde für das verbotene Wort, und unser beider Schmerz würde sich in Liebe verwandeln, in einer Welt, in der wir gemeinsam essen und trinken, Feste feiern und Pläne schmieden würden. Irgendwann …
    »Lommer jonn«, sagte der Vater und erhob sich, wie es seine Art war, indem er zuerst mit dem geraden Fuß Halt suchte, dann den ungelenken unter der Bank hervorzog und danebenstellte.
    Doch er machte sich nicht auf den Heimweg, schlug die entgegengesetzte Richtung ein, weg von den Sonntagsspaziergängern, die hier nach ihrem Mittagsschlaf bald in hellen Scharen auftauchen würden. Zum Notstein? Bis dorthin würde er es mit seinem zu kurzen Bein kaum schaffen. Und Bänke gab es auf dem Weg dorthin nicht.
    »Siehs de die Bööm do?« Der Vater deutete auf ein Erlenwäldchen nahe einer Gruppe von Kopfweiden, die fast kreisförmig um einen Sandplatz nahe am Ufer standen. »Do jommer hin.«
    Der Pfad schlängelte sich die Böschung hinunter; der Vater ging voran, ging leicht, beinah flink, sein linker plumpbeschuhter Fuß schien fast übermütig zur Seite auszuschlagen. Konnte ich meinen Ohren trauen? War es wirklich der Mann vor mir, war es sein Mund, der die Luft ausströmen ließ, dass Pfeiftöne an mein Ohr drangen, fest, gradaus und melodisch? Zwischen
Möwengeschrei und Grillengezirp, dem Wind in den Pappeln, hinein ins klappernde Schilf pfiff der Vater: »Gehn Sie mit der Konjunktur, gehen Sie mit auf dieser Tour. Geld, das ist auf dieser Welt, der einz’ge Kitt, der hält, wenn man davon genügend hat.«
    Mit wiegendem Oberkörper und schlingerndem Fuß ging der Vater voran; blieb noch einmal stehen und brach einen Zweig aus einer Weide. Schwang das Stöckchen überm Kopf im Takt seines Pfeifens, lustig wippte die Weidengerte überm Hut. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen«, pfiff der Vater, und ich hätte ihm gern etwas vom Taugenichts erzählt, vom Taugenichts und dem, der ihn erschaffen hatte, der mir seit einem Semester vertrauter war als der Vater. Hätte ihm gern erzählt, so, wie ich Mutter und Tante von ihren Lateinkenntnissen überzeugt hatte, dass er eines der berühmtesten Gedichte der deutschen Romantik auswendig wusste. Leise sang ich die Verse vor mich hin, und der Vater nahm seinen Hut ab und setzte ihn dem Stöckchen auf, das Hütchen wippte und drehte sich im Wind.
    Ich war froh, dem Vater nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Sein Rücken im hellen Sommermantel, sein braungebrannter Hals, das mit Wasser glattgekämmte, noch dunkle Haar am Hinterkopf - das war genug.
    Wie viel Mühe er sich gab, sogar im Sommer mit Hut, Frisur und Schweinslederhandschuhen den Vorstellungen der Mutter und ihrer Verwandtschaft von einem respektierlichen Aussehen nahezukommen. Sonne fiel schräg auf sein Haar, dass die Spitzen glänzten wie graues Metall; wie die Drahtballen, die er Tag für Tag durch die Maschinen schleuste.
    Noch immer war der Pfad zu eng, um nebeneinander gehen zu können. Der Vater ließ das Stöckchen sinken, setzte den Hut wieder auf und schob ihn weit in den Nacken, wie der Wäschemann, wenn er der Altstraße 2 seinen zufriedenen Rücken kehrte. Auch der Rücken des Vaters sah leichter und aufrechter aus als werktags, wenn er im Blaumann sein Fahrrad durchs
Tor schob. Ob er lächelte? Nicht dieses unnatürliche gehorsame Lächeln, wenn er mit dem Prinzipal sprach, dieses Lächeln, das mich so traurig machte und wütend. Auf den Mann, der dem Vater das falsche Lächeln abnötigte, und auf den, der sich nötigen ließ. Es tat mir weh, dieses Lächeln, und gleichzeitig spürte ich den Wunsch, mich dafür zu rächen.
    Der Vater hatte aufgehört zu pfeifen, und ich floh wieder in meinen Kopf, zerlegte meine Wirklichkeit in Subjekt, Prädikat, Objekt, ordnete den Vorgang, dass ich hinter dem Vater am Rhein entlang durch die Wiesen auf ein Gebüsch zustapfte, in grammatische Regelmäßigkeiten, ein Regelwerk von Füßen, von Wörtern, in dem nur der schlackernde linke Fuß des Vaters irritierte.
    Ich gehe hinter dem Vater her, sagte mein Kopf, oder sagte ich es zu meinem Kopf? Wenn Möwen kreischten, machte ich einen Satz mit

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