Aufbruch - Roman
Burg, einen Bogen zog, am Leib vorbei von der linken zur rechten Schulter, der Gemeinde immer einen Handschlag hinterher.
Eine mächtige Brust, eine feste Burg, mag sein, das war der Grund, weshalb alle zu ihr hinrannten, als gäbe es etwas umsonst. In der Tat gab sie, was man erwartete: Schmerzen, Qualen zum Die-Wände-Hochgehen. Hatte man den Besuch bei ihr überstanden, konnte man mitreden. Berichten, wie von einem Scharmützel oder einer Feldschlacht, je nachdem, was einen zu ihr hingetrieben hatte. Freiwillig streckte sich niemand auf die Kunstledermatte, legte die Oberarme auf die eisigen stählernen, notdürftig mit wachsbleichem Plastik überzogenen Lehnen und verkrampfte die Unterarme, die Hände überm Bauch, während man durch ruckartige Bewegungen des Halses versuchte, die Schnürung des lindgrünen Capes, das den Vorderkörper bis zu den Knien bedeckte, zu lockern. Wer hier lag, war nur noch aufgesperrtes Maul und bis zu zweiunddreißig Zähne. Meist weniger. Oft keine. Keine mehr.
Frau Dr. med. dent. Amanda Kritz war bekannt für Gründlichkeit und Großzügigkeit. Auf einen Zahn mehr oder weniger
kam es ihr nicht an, und mit jedem gezogenen Zahn schien ihre Reputation zu wachsen. Vollends gefestigt war ihr Ruf, als Kreuzkamp eines Sonntagmorgens im Hochamt, es war Exandi, der letzte Sonntag vor Pfingsten, wieder hell und klar und mit hörbarem Genuss für ihn und seine Zuhörer das Evangelium, das Wort des lebendigen Gottes, in die Gemeinde schmetterte, unbeeinträchtigt vom Zischen und Speichelregen eines schlecht sitzenden Gebisses. Und wenn Kreuzkamp jetzt den Mund schloss, dann ohne dieses tückische Klacken, das beim Aufsetzen des Oberkiefers auf den Unterkiefer den Träger eines billigen, schlecht angepassten Zahnersatzes verrät. So, wie beim Herrn Kaplan, der, allen Ratschlägen zum Trotz, dem Zahnarzt meiner Kindheit die Treue gehalten hatte. Kreuzkamp hingegen war mit der neuen Zeit und zu Dr. med. dent. Amanda Kritz gegangen, geschieden oder nicht, katholisch oder evangelisch. Die rundum geglückte Gebisssanierung war ein Gewinn für Pastor und Gemeinde und die beste Reklame für alle drei: Pastor, Zahnärztin und Gottes Wort.
Die Messe allerdings gab Frau Dr. med. dent. Kritz bald wieder auf, zu offensichtlich folgte ihr Knien, Sitzen und Stehen nur als Abklatsch derer in den Bänken vor ihr, und den Mund zum Beten und Singen kriegte sie auch nicht auf. Schon begannen die Frauen zu tuscheln, und viel fehlte nicht, ihr wäre der Nutzen aus der Teilnahme am frommen Brauch ins Gegenteil umgeschlagen. Sie merkte es gerade früh genug und blieb weg.
Die Dondorfer blieben ihr treu. Ohne Not, das lag in der Natur der Sache, ging niemand zu ihr. Aber was ist Not? Ich hatte zweiunddreißig mehr oder weniger gesunde Zähne. Molldersen hatte mit zitternder Hand und zackigen Plomben seine Spuren bei mir hinterlassen. Tägliches Zähneputzen, wenn im Winter abends wegen Frost das Wasser abgestellt wurde, gehörte nicht zur Regel der Altstraße 2. Dennoch waren meine Zähne weiß und groß und alle da; doch schräg und schief nahmen sie sich im zu kleinen Kiefer gegenseitig den Platz weg, als spiegele sich die Enge der Altstraße 2 wider in meinem Gebiss.
Ich besaß eintausend Mark. In meiner Hand lag, Schiller, meiner Zähne Sterne. Mit Lektüre für eine lange Wartezeit setzte ich mich vor die Tür des Sprechzimmers der Dr. med. dent. Amanda Kritz. Passend für einen Zahnarztbesuch: Fritz Tschirchs Geschichte der deutschen Sprache. Band 1. Die Entfaltung der deutschen Sprachgestalt in der Vor- und Frühzeit. Das erste Kapitel »Die Lautgestalt« machte klar, worum es bei Zahn- und Sprachforschung gleichermaßen ging, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Um Kehle, Zäpfchen, Gaumen und Zungenbett, zuständig für die Vokale; um Ober- und Unterzähne, Ober- und Unterlippe, die Labiale und Dentale, Lippenund Zahnlaute, hervorbrachten.
Um die Dentale war es mir im Wartezimmer der Dentistin Kritz zu tun, um ein nicht nur lautlich einwandfreies, sondern auch optisch ansprechendes t, d, ß, s, z; auch für die Nasale m und n waren sie zuständig, meine schiefen Schneidezähne oben.
Doch ich kam nicht weit bei meinen Reflexionen über den Vorteil gradlinig ausgerichteter Vorderzähne im Hinblick auf die Entstehung des indogermanischen Konsonantismus. Die Tür ging auf. Meine Ruh dahin. Eine Frau schleppte zwei Jungen an, beide eine geschwollene Backe haltend, wimmernd, winselnd. Die Mutter mit
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