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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Begräbnis erzählte. Doch als ich meinen Arm
um sie legen wollte, wies sie mich sanft, aber bestimmt zurück. Auch sie sei damals wie viele andere in die Lambrakis-Jugend eingetreten. Mikis Theodorakis, erster Vorsitzender.
    » Alexis Sorbas «, sagte ich. »Ein wunderbarer Film. Wunderbare Musik.«
    »Ja«, Nestoria lächelte bitter. »Sirtaki, Oliven, Tsatsiki und das weite Meer. Das ist alles. Schön wär’s.«
    Ich drängte nicht. Jede Erzählung hat ihr eigenes Tempo. Und jeder Erzähler auch.
    Mitglieder der Lambrakis-Jugend, fuhr Nestoria fort, hätten keine Aussicht mehr auf eine Anstellung. Nicht einmal als Putzfrau hätte man sie irgendwo genommen. Die Ausbildung im Gesundheitszentrum habe sie ja noch beenden dürfen, aber unter welchen Schikanen. Jedesmal, wenn sie aus ihrem Dorf in die Stadt fuhr, wurden ihre Taschen durchsucht. Oder man zwang sie auf dem Heimweg, aus dem Bus zu steigen, ein Schauspiel für die Fahrgäste; erst mit dem nächsten Bus, zwei Stunden später, durfte sie weiterfahren. Waren die Polizisten besonders gemein, musste sie noch mal raus. Hinter dem Rücken ihrer Eltern habe sie sich in Thessaloniki um eine Zulassung zur Auswanderung beworben. Die sei auch gekommen. Gleichzeitig mit dem Bescheid der bestandenen Prüfung und der Nachricht von der Ermordung eines führenden Mitglieds der Lambrakis-Jugend durch die Polizei. Dennoch habe sie sich noch einmal um eine Stelle im Gesundheitszentrum beworben. Dazu sei nur eines nötig, habe ein Onkel gesagt: Sie müsse Lambrakis abschwören.
    »Fragen Sie sich«, so Rebmann damals, bevor er uns auf die Suche nach der braunen Zeit geschickt hatte, »fragen Sie sich, ehe Sie urteilen, immer selbst: Was hätte ich getan?« Hätte ich gehandelt wie das Mädchen neben mir auf der Bank am Rhein?
    Die hatte ihrem Onkel den Rücken gekehrt. Nach Thessaloniki sei sie gefahren, so Nestoria, habe ihre Zulassung abgeholt und sich der Gesundheitsprüfung für Auswanderer gestellt.

    »Schau!« Nestoria zeigte auf einen Flieger, der den Himmel zeichnete. »Ein Z. So wie damals in Athen. Überall an Mauer: Z. Z, der erste Buchstabe von Zoi. Das heißt: Leben.« Nestorias Miene verdüsterte sich. Ihren Vater habe sie eingeweiht; die Mutter erst, als die den Koffer entdeckt hatte. Fast hätte sie ihr den Segen verweigert, sei ihr dann aber nachgelaufen. Nestoria machte eine Pause, schloss die Augen und legte die Hände über dem Kopf zusammen, als hielte sie den Segen fest.
    »Ich bin gekommen, weil ich die Demokratie liebe«, schloss Nestoria mit schwerer Zunge, aber fehlerfreier Grammatik. Es klang wie auswendig gelernt, und doch so, als leihe sie sich diese Worte nur für etwas ganz und gar Eigenes. So, wie man ein Gedicht auswendig lernt und dann spricht, als seien es die eigenen Worte.
    »Erst gut Deutsch lernen. Dann ich werde Prüfung in Deutschland nachholen. Gehen wir? Die anderen sind schon Eisdiele.« Nestoria stand auf. »Und: Sag keinem etwas. Und wenn ich Fehler mache, sag du mir. Bitte.«
    »Mensch, Nestoria. Ich wünschte, ich könnt so gut Griechisch wie du Deutsch. Aber wir können gern nach Feierabend üben. Und jetzt schaun wir mal nach den andern. Die ›sind schon in der Eisdiele‹.« Wie leicht es war, Nestorias Hand zu fassen, mich daran hochzuziehen und sie nicht loszulassen, als wären wir Freundinnen seit jeher.
     
    Spät kam ich zurück. Der Bruder lag schon im Bett. Leise schlüpfte ich in das meine.
    »Bertram, schläfst du?«, wisperte ich.
    »Fast, hm«, knurrte es zurück.
    »Denkst du manchmal daran, dass wir in einer Demokratie leben? Frei?«
    »Hä!« Der Bruder fuhr hoch, als hätte ich um Hilfe geschrien, fiel aber gleich wieder zurück und bohrte sich in die Kissen.
    »Schlaf weiter«, murmelte ich in seinen Rücken und zog mir die Decke über den Kopf. Vom Bett des Bruders kamen leise Pfeiftöne.

    Zu vielen Übungsstunden mit Nestoria kam es nicht. Zusammen mit einer Spanierin aus dem Deutschkurs mietete sie eine kleine Wohnung in Düsseldorf und fand bald als Pflegerin in einem Krankenhaus Arbeit. Sie würde ihre Prüfung zur medizinisch-technischen Assistentin bestehen. Eine weit größere hatte sie schon bestanden.

    Sie war neu im Dorf. Alleinstehend, ledig oder sogar geschieden. Jedenfalls: kein Mann im Haus. Zugezogen. Aus Düsseldorf.
    In der Kirche hatte ich beobachtet, wie sie die Fingerspitzen gegen die Stirn tippte, die rechte Hand senkte, auf die Brustmitte stippte, eine mächtige Brust, eine feste

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