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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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noch: Ich merkte gar nicht, dass ich tat, was er wollte; weil ich glaubte, ich sei es, die wollte, was er wollte, dass er genau das vorschlug, was ich wollte. Ich ließ mich zurückgleiten. Vergaß Rosenbaum und meinen Schwur bei den Underberg-Flaschen am Rhein und hob mein Glas dem Godehards entgegen.
    Es schmeckte sehrsehr gut. Mein Magen knurrte nach mehr. Ich griff in den Brotkorb, Godehard hielt mich zurück. »Du verdirbst dir nur den Appetit«, warnte er. »Ah, siehst du, es geht schon weiter.«
    Zwei tiefe Teller, mit ihrem Riesenrand wie umgedrehte Hüte italienischer Padres, wurden vor uns abgestellt. Nudeln. Normale buttrige Bandnudeln. Dazu rückte der Kellner ein Tischlein heran, streifte sich einen weißen Handschuh über seine Rechte, griff in die silbern polierte Schale, die uns an unserem Tisch länglich verzerrt widerspiegelte, zog eine schrumpelige dunkle Knolle heraus, etwas größer als eine vertrocknete Pflaume, und hielt sie Godehard diskret unter die Nase. Der schnüffelte und verdrehte die Augen. Worauf der Kellner die Knolle über einen winzigen silbernen Hobel führte, doch nicht etwa über Godehards Teller, etwa so, wie man Käse reibt, o nein, über einer Art Briefwaage wurde gehobelt, bis Godehard die Hand hob, worauf die Knollenspäne aus der goldenen Waagschale glitten und sich braungrau und stumpf über dem gelben Butterglanz der Bandnudeln verteilten.
    Ein würziger Geruch breitete sich aus, nasser Waldboden, Tannen und Fichten, moderndes Laub, reife Pilze, aufregend und ein bisschen verboten roch es, nicht jugendfrei. Ich kicherte.
    Wieder stellte sich der Kellner in Positur, die Knolle war erst zur Hälfte verbraucht. Ich nickte dem Mann, wie ich hoffte, hoheitsvoll zu, der Hobel senkte sich über die Waage, die Rechte rieb, ich schaute zu. Die Knolle war zu Ende. »Weiter«, sagte ich. Wieder griff der weiße Handschuh in die Schale, flogen
die Späne in die Schale der Waage, deren feines Gestänge sich nun merklich senkte. Der Ober machte eine Pause. »Noch ein bisschen, bitte!« Lächerlich dieses Getue mit Handschuh und Waage für so ein paar schrumpelige Dinger. Ich hatte Hunger. Die zweite Knolle war alle.
    »Die Nudeln werden kalt«, mahnte Godehard. Entschlossen kippte der Kellner die Späne auf meinen Teller und machte sich mit seinem Tischlein davon.
    Ich mischte die Schrumpelkrümel unter die Nudeln und lud mir - Dr. Oheim hin oder her - einen herzhaften Bissen auf die Gabel. Kaute mit vollen Backen, während Godehard bedachtsam ein Nudel-Späne-Häppchen zum Munde führte und an den Gaumen presste, als prüfte er ein Medikament.
    »Nun, wie schmeckt’s?«, fragte er, und diesmal wartete er meine Antwort wirklich ab.
    »Ein-fach köst-lich«, entsann ich mich angelesener Kinderstuben, Effi Briest oder Buddenbrooks , und verschlang eine zweite Nudelfuhre. »Superb.« Dass ich Großmutters Makkaroni mit Ei, gekochtem Schinken und altem Holländer überbacken diesen Schnipseln bei weitem vorzog, behielt ich für mich. »Allerdings: bisschen trocken.«
    »Bisschen waaas?« Godehard verschluckte sich. »Diese Périgord-Trüffel sind das Beste, was der Markt hergibt!«
    Trüffel! Das waren Trüffel! Ich aß Trüffel! Trüffel wie in Babettes Gastmahl !
    Rebmann hatte mir das Buch erst vor kurzem gegeben. Neben dem Buchhändler sorgte auch er für meinen Lesestoff. »Gut, dass Sie auch mal die Zeitgenossen lesen«, hatte er meine Vorliebe für tote Dichter indirekt getadelt. »Man kann nicht nur von Wurzeln leben.«
    Ich zog die Toten den Lebenden vor, das Alte dem Neuen. Das Neue, das Alltägliche hatte ich jeden Tag. Ich war mein eigener Zeitgenosse, kannte meine eigene Zeit, war ihr Teil. Ich musste nur das Fernsehen anstellen. Oder den Gesprächen von Mutter, Tante und Cousinen zuhören. Wo waren sie gewesen?
Wer mit wem? Was hatten sie angehabt? Gegessen? Getrunken? Wurde wieder alles teurer? Wer hatte was gesagt? Getan? Wer war krank und wer gestorben? Hatte geheiratet? Wer war unter die Räder gekommen? Ich saß dabei und hörte zu. Und las ohne ein Buch. Geschichten, um die Hauptfigur, die Tante, herumgeschrieben, die die Fäden in der Hand hielt wie ein Romancier vom alten Schlag.
    Ich musste nur von den Büchern aufsehen, um zu wissen, was passierte. Es war die Zeit der Toten, die ich nicht kannte. Die Toten waren aufregend genau darum, weil sie nicht wir waren. Die Zeit hatte für mich eine Wahl getroffen. Aus dem Stimmengewirr vergangener Zeiten einen Kanon des

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