Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Jottes«, murmelte ich kichernd.
    »Wie bitte?«
    Ich wiederholte das Sprüchlein. Wie viel Kummer hatte es mir damals bereitet, als ich es genau so vor der Klasse aufgesagt hatte und nicht, wie es sich gehörte und Doris und die anderen es konnten, mit hochdeutsch korrektem G.
    »Bravo«, sagte Godehard. »Wo hast du das denn gelernt? Besser kann das eine Putzfrau auch nicht.«
    »Übungssache«, antwortete ich knapp und versuchte, ihm auf dieselbe Art in die Augen zu schauen wie er mir.
    Godehard schwenkte den Rothschild, ich tat es ihm nach, musste immer nur tun, was er tat, um Frau Dr. Oheims Regeln - auf keinen Fall »das Glas plump mit der ganzen Hand umspannt« - perfekt in die Tat umzusetzen, die schiere Lehrstunde war das hier, und doch: Es war mehr. Weil mir der Lehrer gefiel.

    Godehards Glas schwebte mir über den weißen Damast entgegen, vorbei an Spitzkohl und Entenbraten, Gläserklang, Glockenklang, die Glocken des Kölner Dom, der dicke Pitter, läuten den Sonntag ein, läuten die Weihnacht ein, Ostern, Auferstehung.
    Der Ober: »Herr van Keuken. Sie werden am Telefon verlangt.«
    Godehard fuhr hoch. »Muss das sein?«
    »Ihr Herr Vater.«
    Widerwillig, doch ohne zu zögern, sprang Godehard auf. »Du entschuldigst mich. Ich bin gleich wieder da.«
    Mein Teller war leer. Spielerisch ließ ich Messer und Gabel zusammenklirren. Nie hatte ich so schweres Besteck in Händen gehalten. Ich schwenkte den Rothschild im Glas, schmeckte Traum und Vergangenheit, Traum und Zukunft, die Glocken des Kölner Doms, sah mich mit dem Vater im Kaufhof bei Russisch Ei und Kölsch, sah mich bei Rosenbaum mit meiner schlecht verpackten Flasche Escorial Grün - und goss den Rothschild vorsichtig, wehmütig in die Geranie, die üppig rosa im Messingtopf neben mir auf der Fensterbank blühte.
    Godehard kam zurück und mit ihm der Kellner, der nachgoss und die Keulen der Ente servierte, eine kleine Portion auf Pilzen. Immer noch schmeckte es sehrsehr gut. Godehard und Kellner tauschten einen schnellen Blick, der von meinem leeren Glas zur Flasche und über mich hinwegging.
    Godehard sah verstohlen auf die Uhr. »Entschuldige, aber ich habe versprochen, die Tante anzurufen, wenn es später wird. Ich bin gleich wieder da.«
    Und die Geranie wurde zum zweiten Mal mit einem Rothschild verwöhnt.
    »Sei mir nicht böse, Nachtisch entfällt.« Godehard ergriff meine beiden Hände und zog mich hoch. »Mein kleiner Bruder wartet auf mich bei der Tante. Er hat gerade in Hamburg sein Studium begonnen. Aber ich fahre dich noch nach Hause.«

    »Wirklich nicht nötig«, sagte ich. »Ist doch ein Riesenumweg für dich. Bushaltestelle genügt.«
    Godehard schien erleichtert. Winkte dem Kellner. Drückte ihm einen Schein in die Hand, ich glaubte, einen Zwanziger zu erkennen. Und die Rechnung? Musste ein Herr van Keuken denn nirgends bezahlen?
    Der Ober dienerte uns zur Tür, reichte mir die Rose, den Stiel in feuchtes Papier eingeschlagen. »Mademoiselle, bis zum nächsten Mal.«
    Feiner, dichter Regen fiel noch immer, die Erde roch nach altem Laub und frischem Grün, Frühlingsduft, der die Sehnsucht anstachelte, zu erleben, was in den Büchern stand. Godehard nahm mich in seine Arme, nein, untern Arm nahm er mich, wir rannten die wenigen Schritte zum Wagen, und da nahm er mich wirklich in seine Arme, zog mich an seine grüne Strickjackenbrust, die nach Entenbraten und Champagnerkraut roch, vorsichtig, umsichtig, als handle es sich um einen wertvollen zerbrechlichen Gegenstand. Nie zuvor hatte mich jemand in einer Berührung so eins mit mir gemacht, eins mit mir und der Welt, wie es sonst nur das Lesen vermochte. Nein, auch Federico hatte das gekonnt, mein schöner Gastarbeiter, damals am Rhein, als er mir wieder und wieder meine Haare, capelli bellissimi, mit seiner Noppenbürste striegelte. Aber da war ich ein Kind, ein kleines Mädchen gewesen, das sich Taschentücher in den Büstenhalter der Mutter steckte. So also konnte sich das auch anfühlen, Lippen hinter dem Ohr, den Nacken, die Kehle hinauf und hinunter bis in die Kuhle am Schlüsselbein, eine Hand in den Haaren, die andere auf meiner Schulter, dem Schulterblatt, streichelnd, liebkosend, durch den Stoff meines Pullis, Schulter und Schulterblatt und kein bisschen darüber hinaus. Ich dachte an Sigismunds harte Jungenhände, sein Tasten, Drängen und Greifen, das unser Zusammensein zu einem ständigen Kampf zwischen Gewähren und Verweigern gemacht hatte. Eine heiße Welle froher

Weitere Kostenlose Bücher