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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Dankbarkeit, dass Godehard mich nicht bestürmte, mir nichts abverlangte, kein Ja und kein Nein, durchflutete
mich, ich schmiegte mich an ihn. »Nie«, flüsterte er, »werde ich etwas tun, was du nicht willst.« Da hob ich ihm mein Gesicht entgegen, das er in beide Hände nahm, seine Lippen tasteten über mein Gesicht, leicht und behende leckte seine Zungenspitze die Stirn, als schriebe sie eine geheime Botschaft; seine Lippen streichelten die meinen, wie zuvor seine Hände Körper und Kopf, ich musste nichts tun, nur annehmen und geschehen lassen, gewähren, das meinte schon zu viel Absicht, absichtslos geschehen lassen, dass seine Lippen die meinen öffneten, oder öffneten sich meine Lippen den seinen? Unsere Lippen öffneten sich, wie sich Lippen öffnen, kein Vergleich drängte sich dazwischen, alles geschah wie von selbst, geschah wie der Frühlingsregen draußen, der stärker geworden war und die Sicht nach außen nun gänzlich versperrte. Godehards Zunge war zärtlich und kundig, spielerisch und verständig, nicht heiß, nicht lau, schmeckte, wie ihm die meine schmecken mochte, nach Ente, Trüffel, Rothschild und Champagner, nach Godehard und Hilla. Er schmeckte sehrsehr gut. Ich genoss den Kuss und den nächsten, genoss ihn wie unser erlesenes Mahl. Hillas und Godehards Gastmahl. Und doch: Ich blieb wachsam, aufmerksam wie in einer Schulstunde.
    So selbstverständlich, wie wir uns in die Arme genommen hatten, lösten wir uns voneinander.
    »Musik, Hilla?«
    Ich nickte in die Dämmerung. »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist«, sagte ich vor mich hin.
    »Spielt weiter! Gebt mir volles Maß!«, schloss Godehard an. »Ja, denkst du denn, ich kümmere mich nur um alte Steine? Auch die alten Dichter sind mir nicht ganz egal. Und auch die neuen nicht. Erzähl doch mal, hast du einen Lieblingsdichter?«
    Was für eine Frage. Aber sollte ich ihm wirklich von meinem Friedrich erzählen, Friedrich Schiller, dem ich als Kind, als die anderen Mädchen in der Klasse für Filmschaupieler schwärmten, einen Altar errichtet hatte? Dessen kluge Sätze - »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«, »Der Mensch ist
frei geschaffen, ist frei, und würd er in Ketten geboren« - mir durchs Leben geholfen hatten. Oder von Sartre? »Ich bin meine Freiheit.« Von Seneca? »Auch aus einem bescheidenen Winkel kann man in den Himmel springen.« Von Sokrates? Dass nur das schön ist, was auch wahr ist.
    Sollte ich ihm erzählen, dass ich in den Büchern suchte nach Wörtern und Sätzen mit der Kraft eines Amuletts. Dass Lesen für mich eine einzige ununterbrochene Frage nach dem Sinn des Lebens war? Wie soll ich leben? Was soll ich tun? Das war die einzige Frage. Dafür brauchte ich nicht einen Lieblingsdichter. Ich brauchte sie alle. Ich las, die Antwort zu suchen, und merkte nicht, dass die Suche selbst zur Antwort wurde. Lesen war mir zum Leben geworden. Die Welt existierte, um gelesen zu werden. Und ich, um sie zu lesen.
    Kein Wort davon zu Godehard. Vielleicht später. Also warf ich mich in die Brust mit Goethe, Hölderlin und Hofmannsthal, deklamierte: »Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht …«, getragen von Beethovens Opus 11, wie Godehard die Radiotöne einordnete.
    »Aber Musiik, Musiiik«, seufzte er, und ich musste mir den Mund zuhalten, um nicht Mu -sick zu kichern, Mu -sick, wie es zu Hause hieß. »Die geht doch über alle anderen Künste. Davon verstehst du wohl nicht so viel?«
    Er hatte recht. Zu Hause wurde klassische Musik abgestellt oder weitergedreht Richtung Radio Luxemburg. Meine Kenntnis beschränkte sich auf festtägliche Darbietungen des Kirchenchors, und mit Bertrams Hilfe und dessen Musikunterricht hatte ich nur herausgebracht, dass es sich bei dem vom Kirchenchor oft und laut gesungenen »Halleluja« um Händel handelte, und Orgelmüller, wie der Dondorfer Organist Honigmüller allgemein genannt wurde, sich an Buxtehude versuchte.
    »Kommt alles noch, kommt alles noch«, tröstete Godehard und drückte seine Lippen auf meine Hand, dass ich seine Zähne spürte. Gewollt zu sein. Einfach so. So, wie ich war. Ich, Hilla Palm aus der Altstraße 2. Dat Kenk vun nem Prolete. War das
nicht wirklich die reine, wahre Liebe? Wie in den Büchern mit Chefärzten und Komtessen?
    Godehard fuhr sicher, geschickt, von Champagner und Rothschild keine Spur, die Scheibenwischer klackten verlässlich den Regen beiseite, ich sah ihnen zu, ihrer eintönigen Bewegung, sah aus dem blanken Halbrund in die

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