Aufbruch - Roman
Vorfrühlingslandschaft, die sich den Tropfen entgegenzurecken schien.
Ich musste wohl eingenickt sein, schrak hoch, als der Wagen hielt.
»Riesdorf, alles aussteigen«, rief Godehard aufgeräumt. Er hatte es eilig. »Die Tante«, ächzte er, mir die Wagentür öffnend. »Bis morgen?« Und ohne meine Antwort abzuwarten, schlang er mich noch einmal an seine grüne Strickjacke, in der noch immer Entenbratenduft hing. »Bis morgen. Bei Buche.«
Zu Hause lag ein Butterbrot auf dem Brettchen für mich auf dem Tisch. Graubrot mit Mettwurst, die Kanten schon trocken, nach innen gerollt. Ich musste sauer aufstoßen. War mir der Champagner doch nicht bekommen?
»Hab schon gegessen. Bei Monika«, sagte ich, und die Mutter schob das Brot dem Bruder zu, der an seinen Hausaufgaben saß. Der nickte mir kurz zu und verschlang es.
»Amo«, knurrte er, »morgen ist Mathe.«
»Amas, amat, schon wieder? Du Armer!«
Die Mutter schaute mich kopfschüttelnd an. Derlei Gefühlsausbrüche waren bei uns unbekannt.
»Hier, Mama«, hielt ich der verdutzten Frau die Rose hin.
»För mesch? Wofür dat dann?«
»Einfach so.«
Die Mutter hielt die Rose von sich gestreckt, als könne die Blume jeden Augenblick einen Rüssel nach ihr ausfahren oder ein Spinnenbein.
»Oma«, rief sie, »has de mal en Väsjen.«
Unter dem Kruzifix neben dem ausgebrannten Öllämpchen nahm sich die Rose wahrhaft königlich aus.
»Die Rose«, forschte Bertram, kaum dass wir in den Betten lagen, »war doch sicher von deinem Gooodehard.«
»Hm.«
»Und dann schenkst du die der Mama?«
»Warum nicht?«, erwiderte ich leichthin; aber die Frage gab mir einen Stich. Sigismunds Rose hätte ich niemals der Mutter geschenkt. »Hör mal«, sagte ich zögernd, »glaubst du, dass es Lügensteine gibt?«
»Ha«, fuhr Bertram hoch. »War das etwa alles gelogen, was du erzählt hast? Und überhaupt, wo warst du denn so lange?«
»Essen«, sagte ich. »Spazieren.« Wieder spürte ich es sauer die Kehle hochsteigen.
»Nein, wirklich nicht. Stimmt alles. Ich meine nur so. Ob es Lügensteine gibt.«
»Lügensteine«, der Bruder nahm das Wort in den Mund, wie wir als Kinder Wörter, die uns gefielen, in den Mund genommen hatten, auf der Zunge gerollt wie Himbeerbonbons. Er schnalzte: »Na klar, gibt es die. So wie Lach- und Wutsteine. Und Traumsteine. Lapis somniorum. Ich such dir einen schönen. Schlaf gut.«
Lange grübelte ich, was wohl mit dem Rest der Ente geschehen war. Hatten wir - halt! - hatte Godehard nicht für das ganze Geflügel bezahlt? Gezeigt hatte uns der Ober das Tier komplett. So gerne hätte ich die Stücke mitgenommen. Bestimmt hätten die der Mutter besser gefallen als die Rose. Ich hatte mich nicht getraut. Das Knusperhaus zeigte schon Wirkung.
Godehard war nicht bei Buche am nächsten Tag. Dafür reichte mir der Buchhändler ein Buch, in dünnes Papier eingeschlagen, das den Titel kaum verhüllte. Die Mauer .
»Herr van Keuken lässt sich entschuldigen, sein Bruder bestand auf einem Besuch von Schloss Moorbruck, da ist doch
jetzt diese Ausstellung, dieser Italiener, na, Sie wissen schon.« Der Buchhändler sah mich an, dass ich mir unwillkürlich übers Gesicht strich, als müsste ich etwas abwischen, einen Makel, einen Fleck. Der Blick machte ihn zu einem Fremden. Ich nahm das Buch und hatte nun wirklich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
»Bis morgen«, sagte ich und machte mich davon.
Vergebens suchte ich nach einem Gruß von Godehard, einem Brief, einem Zettel, wie sie der Bruder mir von Sigismund zugesteckt hatte. Egal.
Bis Rheinheim war ich mit der ersten Erzählung, der Titelgeschichte, durch. Ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Ein zum Tode Verurteilter soll einen Freund verraten, damit er selber freikommt. Um den Freund zu schützen, gibt er einen recht unwahrscheinlichen Ort, den Friedhof, als dessen Versteck an. Er kommt frei. Die anderen Gefangenen werden erschossen.
Naja, dachte ich, als der Verurteilte so präzise einen Ort angab. Dann wird der Gesuchte wohl dort sein. Warum sonst - in einer so kurzen Geschichte - diese Einzelheit? Anders als im Leben sollten in einer Ezählung die Details einen Sinn haben, auch wenn der sich erst Seiten später offenbart.
Es war die letzte Erzählung, Die Kindheit eines Chefs, der die warnende Karte galt. Schließlich war strafbar, was Sartre da so eindeutig darstellte, die Verführung eines Jungen durch einen Mann, ne Hundertfönfunziebzijer, ne warme Bruder, wie man
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